EU: Zahlungen an Palästinenser kritisch prüfen
9. Oktober 2023EU-Kommissar Oliver Varhelyi kündigte am Montagnachmittag an, alle Zahlungen aus den Entwicklungshilfe-Programmen der Europäischen Union an die palästinensischen Gebiete sofort einzustellen. Das war etwas voreilig. Am Abend korrigierte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell den Kurs: Die Entwicklungshilfe-Projekte sollen erst einmal geprüft werden. Akut stünden sowieso keine Auszahlungen an, teilte die EU-Kommission am Abend mit, um die peinliche Kehrtwende etwas zu kaschieren. Von einer möglichen Sperre könnten knapp 700 Millionen Euro für Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte, den Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und einer effizienteren Landwirtschaft betroffen sein. In einer Nachricht auf dem Kurznachrichtendienst X hatte Varhelyi geschrieben, das Ausmaß an Terror und Brutalität gegen Israel sei ein Wendepunkt. Bislang ist die Europäische Union einer der größten Geldgeber für das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA). Der EU-Außenbeauftragte Borrell sagte ebenfalls auf X, ein sofortiger Abbruch der Entwicklungshilfe, also "die Bestrafung des palästinensischen Volkes, würde den Interessen der EU im Nahen Osten eher schaden und Terroristen nur weiter ermutigen."
Weiterhin Hilfe für Bedürftige im Gazastreifen
Nicht betroffen von dem Bann der EU-Kommission ist die reine humanitäre Hilfe für Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland, das von Israel besetzt ist. Das schrieb ein weiterer EU-Kommissar, Janez Lenarcic, der für Katastrophenhilfe zuständig ist, ebenfalls auf X. Für humanitäre Hilfe sind in diesem Jahr aus EU-Töpfen mindestens 200 Millionen Euro vorgesehen. Die EU zahlt schon seit Jahrzehnten für Sozialhilfe, Nahrungsmittel, Erziehungsprogramme und medizinische Versorgung bedürftiger Palästinenser.
Nach UN-Schätzungen sind derzeit rund 1,5 Millionen der 2,1 Millionen Einwohner im Gazastreifen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Im Gazastreifen, der von Israel und Ägypten mehr oder weniger abgeriegelt ist, gibt es nicht genug Arbeitsplätze, keine funktionierende Wirtschaft. Die meisten Bewohner leben in Armut. Seit 1993, als Vertreter Israels und der Palästinenser über eine "Zwei-Staaten-Lösung" verhandelten, hat die EU nach Auskunft der EU-Kommission insgesamt 8,5 Milliarden Euro in das Westjordanland und in den Gazastreifen überwiesen. Seit 2007 gibt es keine direkten Kontakte mehr mit der Verwaltung des Gazastreifens, die von der Hamas kontrolliert wird. Die Hamas, die das Existenzrecht Israels bestreitet, gilt in der EU als Terrororganisation.
Keine direkten Zahlungen an Hamas-Verwaltung
In Israel und in Europa standen die Hilfsleistungen der EU als mögliche indirekte Finanzierung der Hamas immer wieder in der Kritik. Der Europäische Rechnungshof hatte bereits vor 2007 kritisiert, dass die EU auch untätige Beamte in der aufgeblähten Autonomiebehörde im Westjordanland mitfinanziere. Seither hat die EU-Kommission die Kontrollen für die Auszahlungen verschärft und weist diese Kritik heutzutage zurück. Die Hilfsgelder würden nicht über die Hamas, sondern über internationale und lokale Nichtregierungsorganisationen wie den Roten Halbmond ausgezahlt.
Deutschland stoppt Entwicklungshilfe
Die Bevölkerung im Gazastreifen wird nicht nur aus dem Gemeinschaftsbudget der EU unterstützt, sondern auch durch bilaterale Zuschüsse einzelner Mitgliedsstaaten. Die deutsche Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze kündigte an, sie werde Zahlungen aus Deutschland im Umfang von 250 Millionen Euro sofort einfrieren. Schulze sagte in Berlin, man habe großen Wert daraufgelegt, dass die Hilfszahlungen dem Frieden dienen und nicht in die Hände von Terroristen gelangen. Trotzdem seien die Angriffe der Hamas auf Israel eine "fürchterliche Zäsur", die eine Überprüfung des gesamten Engagements für die Palästinensischen Gebiete nötig mache. Auch Österreich kündigte an, die Hilfen für die Palästinenser einzustellen.
EU-Außenminister beraten über weitere Schritte
Hintergrund für die Kehrtwende der EU-Kommission bei ihren Ankündigungen zum möglichen Zahlungsstopps sind wohl Beschwerden von mehreren Außenministerien der 27 Mitgliedsstaaten. Die Außenministerinnen und Außenminister der EU wollen sich am Dienstag zu einer Sondersitzung in Muskat in Oman treffen, wo derzeit eine Kooperationstagung mit Staaten des Arabischen Golfs stattfindet. Erst dort soll über die Zukunft der finanziellen Hilfen an die palästinensische Autonomiebehörde und Organisationen im Gazastreifen entschieden werden. Einzelne Staaten wie Irland, Luxemburg oder Spanien kritisierten das Vorpreschen von EU-Kommissar Varheyli. Der Beschluss müsse mit der Mehrheit der Mitgliedstaaten fallen. Die EU hatte auch in der Vergangenheit bei Terroranschlägen oder Raketenangriffen der Hamas auf Israel vorübergehend einzelne Zahlungen eingestellt. Im Frühjahr etwa hatte es Streit um palästinensische Schulbücher gegeben, die mit EU-Mitteln finanziert wurden. In den Büchern wurde der Terrorschlag palästinensischer Täter auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 verherrlicht.
Kritik aus dem EU-Parlament an Hilfszahlungen
Der Auswärtige Ausschuss des Europäischen Parlaments will sich am Dienstag ebenfalls mit der Lage in Israel und den Palästinensergebieten beschäftigen. Der CDU-Europaabgeordnete Niclas Herbst findet die Entscheidung, Gelder einzufrieren, richtig. "Es steht außer Frage, dass die EU-Kommission nach den fürchterlichen Attacken auf Israel durch die Hamas nicht einfach so weitermachen kann wie bisher. EU-Gelder dürfen nicht an Terroristen fließen. Es ist deshalb richtig, jetzt alle Projekte auf den Prüfstand zu stellen." Dass Gelder an Terroristen geflossen sind, bestreitet die EU-Kommission allerdings energisch.
Der Europäische Bund der Steuerzahler, eine Lobbyorganisation, spricht dagegen von möglicherweise falsch verwendeten Hilfen: "Das Schlimmste ist, dass es keine Transparenz bei der Verwendung der Mittel gibt. Wenn sich diese Kontrolle nicht herstellen lässt, müssen die Zahlungen umgehend eingestellt werden", sagte der Präsident des Europäischen Steuerzahlerbundes, Michael Jäger, der BILD-Zeitung im September.