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Europäische Geschichte und amerikanische Geschichten

18. Februar 2006

Berlinale, das ist nicht nur Stars und Goldene Bären, sondern auch ernsthafte Auseinandersetzung mit Film und Geschichte. Wie etwa bei der Serie über die Filme des Marshall-Planes, die 2006 zu Ende ging.

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Weg frei für den MarshallplanBild: picture-alliance/ dpa

Der Marshall-Plan war nicht nur eine Wirtschaftsanstrengung, um Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine zu helfen, sondern auch eine gigantische Propanda-Anstrengung, mit denen die Amerikaner die Herzen und Köpfe Europas erreichen wollten. Unter anderem gründeten sie in diesem Zusammenhang auch die Berliner Filmfestspiele.

Berlinale Selling Democracy David Ellwood
David Ellwood (2. v.l.), und Berlinale-Chef Dieter Kosslick (r.)Bild: berlinale

Grund genug für die Berlinale in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum und dem Bundesarchiv-Filmarchiv, die filmischen Resultate wieder zusammenzutragen und in einer dreijährigen Sonderserie zu dokumentieren.

DW-WORLD sprach mit dem Berater der Serie, dem britischen Historiker Prof. David W. Ellwood, über den Mythos Marshall-Plan und was die Europäische Union von ihm lernen kann.

DW-WORLD: Herr David Ellwood, der Marshall-Plan war die größte Propaganda-Operation in Friedenszeiten überhaupt. Auf der Berlinale geht die Serie "Selling Democracy - Friendly Persuasion“ über die Filme des Marshall-Plans nach dem dritten und letzten Jahr zu Ende. Was haben wir gelernt?

David Ellwod: Dass der Marshall-Plan eine starke psychologische Dimension hatte. Dass er das Gefühl erwecken konnte, direkt an ihm beteiligt zu sein. Dass der Marshall-Plan sehr clever war, wenn es dazu kam, Geschichten und Botschaften zu verbreiten, die genau erklärten, was die Amerikaner taten und vor allem warum.

Die Berlinale selbst ist ein direktes Produkt des Marshall-Plans. Warum haben die Amerikaner so sehr an den Film geglaubt, um ihre Geschichten zu verbreiten?

Die nächstliegende Antwort ist, dass sie damit versuchen konnten über die Sprachbarriere zu kommen. Sie haben also Filme gemacht, die jeder verstehen konnte: Cartoons, Komödien, kleine Satiren. Priorität hatten immer die Filme, die auch in allen 16 am Marshall-Plan beteiligten Ländern gezeigt werden konnten. Ein weiterer Grund war, dass in vielen Ländern die Analphabetenquote nach heutigen Maßstäben unglaublich hoch war – in Italien bei 50 Prozent, in Griechenland und Portugal sah es nicht viel besser aus.

Die Amerikaner wollten mit ihren massiven Propagandaanstrengungen wirklich jeden erreichen – in jeder sozialen Schicht, in jedem Alter, auf jedem Bildungsniveau. Um die meisten Marshall-Plan-Filme zu verstehen, musste man nicht gerade schlau sein. Und schließlich war es eben einfach die Zeit, wo jeder mindestens zwei Mal pro Woche ins Kino ging. Film war das dominante Massenmedium der Zeit. So wie heute das Fernsehen.

Sie bezeichnen die Europäische Union als ein Urenkelin des Marshall-Plans ...

Fraglos. Es gibt starke institutionelle, formale, politische und historischen Verbindungen vom Marshall-Plan zur EU. Beim Marshall-Plan gab es zwei Grundprinzipien: Das eine waren die direkten Wirtschaftsmaßnahmen wie Steigerung der Produktivität und Produktion, Modernisierung der europäischer Industrien, der Transport- und Steuersysteme. Das zweite Prinzip war das Bestehen auf die europäische Einigung. Von Anfang an haben die Amerikaner gesagt, dass sie nur helfen, wenn die Europäer in Zukunft zusammenarbeiten. Und sie wurden immer konkreter: Die Amerikaner sprachen schon 1950 von Marktöffnungen, Angleichung von Steuersystemen, einer Zentralbank und sogar von der Währungsunion.

Heute hat die EU, um es vorsichtig auszudrücken, ein Imageproblem. Sie denkt sogar über die Gründung einer eigenem Presseagentur nach, um ihre Segnungen den Bürgern näher zu bringen. Der Marshall-Plan hingegen hat heute noch einen legendären Ruf. Sollte die EU sich einfach ein Beispiel nehmen und ein paar gute Regisseure beauftragen, Propaganda-Filme etwa für die Ost-Erweiterung zu drehen?

Schwierig. Die EU ist eben eine technokratische Organisation ohne das politische Charisma, den der Marshall-Plan hatte und noch heute hat. Sie hat es bisher nicht geschafft, ihren eigenen Mythos zu erschaffen. Die EU hat enorme Schwierigkeiten, Enthusiasmus zu wecken oder einfach nur zu bestimmen, was Europa überhaupt ist. Bei der Osterweiterung wurde das überdeutlich. Es hätte doch eine aufregende Zeit voller Begeisterung und Anteilnahme sein sollen. Das wurde es nicht – und sogar teilweise absichtlich. Die EU wollte keine Erwartungen wecken, die sie nicht erfüllen konnte. Ein Jammer.

Die Amerikaner hätten das bestimmt ganz anders gelöst ...

Die Amerikaner haben die einzigartige Fähigkeit, ihre politischen Projekte in Geschichten zu verwandeln. Sie erfinden immer Storys und Slogans, die ihre Politik definiert, wie etwa "Selling Democracy“ oder auch den Kalten Krieg oder jetzt auch den "War On Terror“. Viele dieser Geschichten sind unglaublich erfolgreich. Das Wichtigstes im Marshall- Plan ist natürlich das eine, entscheidende Wort: Wachstum. Ein damals absolut neues Wort, das heute der wichtigste Maßstab für den Erfolg in unseren Gesellschaften ist.

Es war damals anders als die alten Ideen der Ökonomie. Es versprach ständig wachsenden Wohlstand für eine ständig wachsende Zahl von Menschen – das hatte man noch nie gehört. Auch ein Slogan, wenn Sie so wollen. So funktioniert amerikanische Demokratie, es ist ein markanter und wirkungsvoller Weg, Macht aufzubauen. Wenn man über "Soft Power“ redet, ist dies das beste Beispiel. Europa findet hingegen nie Slogans. Das ist ein echtes Problem.

Heute versuchen die Amerikaner doch aber im Irak und Afghanistan offensichtlich vergeblich, eine gute Geschichte zu erzählen. Warum klappt es dort nicht?

Noch bevor es den Marshall-Plan für Europa gab, dachten die Amerikaner darüber nach, den Mittleren Osten nach ähnlichen Prinzipien zu entwickeln. Richtig weit kam man aber mit diesen Ideen nicht. Einer der Slogans des Marshall Plan war: "Freiheit durch Wohlstand". Diesen konsumorientierten, individualistischen, privaten Wohlstand scheint aber die große Mehrheit der Leute im Irak nicht zu wollen. Sie haben eben andere Werte und Standards. Damit kommen die Amerikaner kaum zurecht: Dass es Leute gibt, die nicht das selbe wollen wie sie.

Es gibt im Irak zwar Individuen, die gern in den USA leben würden – aber insgesamt gibt es doch wenige Anzeichen, dass der Irak zu einer marktwirtschaftlich geregelten Gesellschaft werden möchte. Der Marshall-Plan war eine riesige Hilfsmaßnahme und äußerst erfolgreich – weil in ihm etwas Gegenseitiges wohnte. Das gibt es nicht allzu oft. Es war eine Art Partnerschaft. Zumindest in der Theorie. Aber politisch war dies sehr wichtig – eine Lektion, die man eigentlich gelernt haben sollte.

Und welche Lektionen werden wir auf der Berlinale im nächsten Jahr lernen?

Berlinale 2006 Syriana | Syriana | Syriana George Clooney
Szenenbild aus 'Syriana' (USA, 2005)Bild: presse

Gute Frage. Es war auf jeden Fall genug Marshall-Plan und genug Propaganda. Es gibt aber zwei drei Möglichkeiten, über die ich nachdenke. Eine wäre Geschichte und Film und wie Film Geschichte erst macht. Wenn man jetzt zum Beispiel George Clooneys neuen Film "Syriana“ über die schmutzigen Öl-Geschäfte Nahen Osten nimmt – das wird in zehn, zwanzig Jahren als historischer Film gelten. Da gibt es viel darüber nachzudenken, wie aus Filmen Geschichte wird. Aber bloß nicht, wie Geschichte in Filmen dargestellt wird – das wäre dann doch zu einfach.

Das Gespräch führten

Sonia Phalnikar und Oliver Samson