Europäischer Tunnelblick
8. Oktober 2013Der Sprecher der deutschen EU-Botschaft in Brüssel verstand anfangs die Frage gar nicht: Welche Beschlüsse vom Treffen der EU-Innenminister zu erwarten wären, um Flüchtlings-Katastrophen wie vor Lampedusa künftig zu vermeiden? Beschlüsse seien da nicht vorgesehen, sagte der Sprecher kurz vor dem Treffen. Die italienische Regierung habe das Thema auf die Agenda gesetzt und jetzt würden die Minister eben ihre Ansichten dazu austauschen.
Als die Minister am Dienstagabend (08.10.2013) den Verhandlungssaal verließen, hatten sie sich in der Tat gegenseitig die Meinung gesagt, hatten gestritten und sich ins Gewissen geredet. "Die europäischen Partner müssen uns helfen", forderte der italienische Amtsträger, und die für humanitäre Fragen zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström ergänzte: "Alle EU-Länder müssen bereit sein, mehr schutzbedürftige Menschen aufzunehmen." Für den deutschen Innenminister Hans-Peter Friedrich ist es dagegen an der Zeit, die europäische Grenzschutztruppe Frontex zu stärken, damit die Menschen gar nicht erst in die Nähe Europas kommen. Sehr unterschiedliche Meinungen demnach, aber keine Entscheidungen.
Warten auf die nächste Katastrophe
Viel Lärm also um nichts? So wie im Mai 2005 oder im August 2006, im August 2008, im März, im Juli und im August 2009, im Februar, im Mai, im Juni und im August 2011, im Juli 2012 und jetzt im Oktober 2013 - die Liste der Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer ist lang. Fast 20.000 Menschen sollen in den vergangenen zehn Jahren umgekommen sein beim verzweifelten Versuch, auf klapprigen Kuttern von Afrika nach Europa zu kommen. Verdurstet, ertrunken, verbrannt. Und jedes Mal war der Aufschrei groß in den Hauptstädten der Europäischen Union. Jedes Mal versprachen die Innenminister, etwas zu tun, damit das nicht wieder passiert. Aber das tut es.
"Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens", drängt der innenpolitische Experte im Europaparlament, Manfred Weber. Weber ist Abgeordneter der CSU, derselben Partei, der auch der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich angehört. Beide sind der Meinung, dass es jetzt nicht darum gehe, die europäische Flüchtlingspolitik umzukrempeln. Vielmehr müssten die Mitgliedsländer die bestehenden EU-Regeln einhalten: "Es kann nicht sein, dass im Mittelmeer Schiffe in Seenot geraten und keine Hilfe bekommen, dass es vielmehr in Italien sogar Gesetze gibt, die diese Hilfe unter Strafe stellen."
Die Flüchtlingsabwehr dominiert
Doch Italien ist kein Sonderfall - es hat nur besonders weitreichende Regeln. Deshalb müssen sich Bootskapitäne und Fischer, die Flüchtlinge an Land bringen, wegen Schlepperei verantworten. Das Gesetz wurde 2002 unter Silvio Berlusconi beschlossen. Es atmet den Geist, der auch in anderen Hauptstädten der EU spürbar ist: Dass Flüchtlinge vor allem Geld kosten und dass es besser ist, ihnen keine allzu angenehme Ankunft zu gewähren. Eine Folge: Die griechischen Aufnahmelager sind in so miserablem Zustand, dass deutsche Gerichte die Abschiebung von Flüchtlingen nach Griechenland untersagt haben - es ist gegen die Menschenwürde.
Damit ist ein Kernstück der europäischen Flüchtlingspolitik zumindest teilweise bereits wieder außer Kraft. Die Dublin-II-Verordnung von 2003 regelt, dass Flüchtlinge grundsätzlich dort und nur dort ihren Asylantrag stellen können, wo sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Wer in Griechenland ankommt, muss in Griechenland seinen Antrag stellen. Versucht er dagegen, sich nach Deutschland durchzuschlagen, kann er von Deutschland aus nach Griechenland zurückgebracht werden - eigentlich.
Nachbarschaftsstreit verstellt Perspektiven
Die Dublin-Verordnung wurde vor allem auf Druck von Deutschland beschlossen. Während der Jugoslawien-Kriege nahm Deutschland den größten Teil der von dort ankommenden Flüchtlinge auf. Alle Versuche, die Flüchtlinge gleichmäßiger auf die EU-Länder zu verteilen, scheiterten am Unwillen der meisten Nachbarländer. So ist das immer: Als vor ein paar Jahren viele Afrikaner vor allem über Spanien in die EU drängten, forderte Madrid eine europäische Lösung. Als Migranten vorwiegend über die griechisch-türkische Grenze kamen, wollte Athen eine Lastenverteilung. Doch die wechselnde Mehrheit, die gerade kein Problem hat, will von einer stärkeren finanziellen Beteiligung oder gar einer Verteilung der Flüchtlinge nach Quoten nichts wissen.
Europäische Politik ist Krisenpolitik. Nur wenn die Mehrheit der Regierungen mit einem Problem zuhause nicht mehr fertig wird, dann treten sie für eine europäische Lösung ein. So ist die europäische Flüchtlingspolitik bis heute Stückwerk geblieben. Das ist europäischer Tunnelblick.
Die Europäische Union darf an den Symptomen herumdoktern: Der EU-Ministerrat definiert die Mindestnormen bei der Behandlung von Flüchtlingen, die europäische Grenzertruppe Frontex macht Jagd auf Schlepper und Schleuser, die EU-Kommission verhandelt mit den nordafrikanischen Ländern über gemeinsame Grenzsicherung und kleine Kontingente legaler Einwanderung. Ein paar Tausend Tunesier, ein paar Tausend Libyer, ein paar Tausend Sudanesen sollen dann für ein paar Jahre in der EU arbeiten dürfen.
"Du darfst bleiben - Du nicht"
Aber solche Quoten entschärfen die Situation an den Küsten des Mittelmeeres nicht. "Es wird immer mehr Menschen geben, die nach Europa wollen, als diese Quoten ermöglichen", erklärt der Migrationsforscher und EU-Berater Bernd Leber. "Das Problem der irregulären Migration wird sich dadurch nicht vermeiden lassen." Zu verhindern seien Katastrophen wie jetzt in Lampedusa nur, wenn Europa die Grenzen völlig öffne. Doch das sei politisch in keinem EU-Land durchsetzbar. "Kein Land der Welt hat ganz offene Grenzen", meint selbst die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel. Sie glaubt, dass Europa und vor allem Deutschland deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen könnten als heute: "Wir müssen mit unserer Bevölkerung reden, den Leuten die Angst nehmen."
Der CSU-Europaabgeordente Manfred Weber glaubt dagegen, dass Europa nicht umhin komme, die meisten Menschen an den Grenzen abzuweisen: "Wir brauchen eine Unterscheidung zwischen politischen Flüchtlingen und denen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen, auch wenn die noch so gut zu verstehen sind," so Weber, "es wird uns nicht erspart bleiben, beim einen zu sagen: Du darfst nach Europa, beim anderen: Nein, du darfst nicht."