10 Jahre EU-Erweiterung
1. Mai 2014Der Tscheche Stefan Füle ist heute in der EU-Kommission für die Erweiterung und die Nachbarschaftspolitik der Union zuständig. Sein Land gehörte vor zehn Jahren zu den zehn Staaten, die auf einen Schlag der EU beitraten. Für Füle, der 2004 Botschafter Tschechiens in Großbritannien war, ist die Erinnerung an den Beitritt ein "besonderer Moment", wie er in Brüssel sagte. "Bedenken Sie: Das, was vor zehn Jahren passierte, lässt mich heute hier erst stehen." Die Integration der ehemals kommunistisch regierten Staaten in Osteuropa und der beiden Mittelmeerinseln Malta und Zypern in die EU sei in der Rückschau ein voller Erfolg, sowohl politisch als auch ökonomisch, so Stefan Füle.
"Historische Bringschuld erfüllt"
Der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen, der den "Big Bang", also die gleichzeitige Aufnahme von zehn Staaten, vorbereitete, sagt heute, dass es nicht einfach war, alle alten EU-Mitgliedsstaaten von der Erweiterungspolitik zu überzeugen. Besonders Frankreich hatte Bedenken, weil Paris fürchtete, dass sich die Machtbilanz innerhalb der EU zugunsten von Deutschland verschieben würde, so Verheugen im Gespräch mit der Deutschen Welle. Doch die zügige Aufnahme der osteuropäischen Staaten sei zur Überwindung der Teilung Europas zwingend notwendig gewesen. "Ich habe es nicht so empfunden, dass die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa als Bittsteller an unsere Tür geklopft haben, sondern ich habe es so empfunden, dass wir hier eine historische Bringschuld haben. Es ging nicht um eine Frage ökonomischer Zweckmäßigkeit, sondern ganz präzise um eine Frage historischer Gerechtigkeit, denn diese Völker sind ja nicht freiwillig hinter dem Eisernen Vorhang gewesen", sagt Günter Verheugen, der heute an der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder lehrt.
Polen gewinnt am meisten
Rumänien und Bulgarien konnten erst 2007 der EU beitreten, weil sie zu große Probleme mit der Durchsetzung rechtsstaatlicher Reformen und der Bekämpfung von Korruption hatten. Unterm Strich hätten alle EU-Mitgliedsstaaten profitiert, die jungen wie die alten, glaubt Janis Emmanouilidis von der Brüssler Denkfabrik "European Policy Centre": "Ein Land hat aber ganz besonders profitiert, und zwar ökonomisch sowie bei seiner politischen Stellung in der EU, und das ist Polen. Polen ist die Führungsmacht in der Region mit einem immer stärker werdenden Gewicht auch in der Europäischen Union insgesamt."
Natürlich würde er mit dem Wissen von heute einige Dinge anders gestalten, meint der damals zuständige Erweiterungskommissar Günter Verheugen (SPD). Man hätte mehr Gewicht auf rechtsstaatliche Reformen legen müssen und einen besseren Schutz von Minderheiten wie die Roma schaffen müssen, sagte Verheugen der DW.
Russische Bedenken sind nicht ganz neu
Russland habe schon damals "gegrummelt", so Verheugen, besonders weil mit den baltischen Staaten ehemalige Sowjetrepubliken aufgenommen wurden. Aber im Grunde habe Russland damals erkannt, dass es stabile Länder in seiner Nachbarschaft brauche und eine "neutrale Pufferzone" zwischen der EU und Russland nicht möglich war. Auch seien Russland alle möglichen Angebote zur Zusammenarbeit gemacht worden, so Verheugen. "Diese Erweiterung von 2004 und 2007 hat keinen Schaden für die europäisch-russischen Beziehungen angerichtet. Diese Probleme sind sehr viel später gekommen, als es um die Frage ging, wie gehen wir nun mit den Ländern in der östlichen Nachbarschaft um, insbesondere mit der Ukraine natürlich."
Lange Warteschlange für die EU
Der weitere Weg der EU-Erweiterung ist vorgezeichnet. Alle Staaten auf dem westlichen Balkan haben im Prinzip Zusagen in der Tasche, dass auch sie in die EU aufgenommen werden. Wann ist allerdings noch nicht klar. Albanien machte Stefan Füle am Mittwoch Hoffnung, dass es in diesem Sommer den offiziellen Kandidatenstatus bekommt. Mit Serbien wird bereits über eine Mitgliedschaft verhandelt. Die Türkei ist seit 2005 Beitrittskandidat. Die Verhandlungen stocken aber seit Jahren. Island hat seine Bewerbung zurückgezogen. Die Ukraine, Georgien und Moldawien streben ebenfalls eine engere Bindung an die EU an. Ob diese Staaten der "östlichen Nachbarschaft" jemals volle Mitglieder werden, ist umstritten. Der Politikwissenschaftler Janis Emmanouilidis vom "European Policy Centre" meint, dass sich die Bevölkerung in der Ukraine mehrheitlich erst einmal selbst klar werden muss, ob sie in die EU will oder nicht. "Das Land ist teilweise innerlich zerrissen. Für viele ist Europa die Hoffnung, für andere weniger. Und es gibt neben den Problemen im Land noch größere, nämlich den Umgang mit unserem größten Nachbarn, mit Russland. Da muss also noch vieles geklärt werden, damit wir entscheiden können, wie wir damit umgehen zum gegebenen Zeitpunkt."
"EU muss attraktiv bleiben"
Von zurzeit 28 Mitgliedsstaaten könnte die Europäische Union also in den nächsten Jahren auf 35 oder mehr Staaten anwachsen. Sie wird dadurch nicht einfacher zu führen. Die Entscheidungsfindung wird komplizierter, aber nicht unmöglich, glaubt der tschechische Erweiterungskommissar Stefan Füle. Die EU sei immer noch ein Orientierungsrahmen für Staaten im Übergang und junge Demokratien. Sie sei attraktiv. Sorgen sollte sich die EU wirklich machen, wenn kein Land mehr beitreten wolle, so Füle. "Jetzt gibt es sieben oder acht Länder, die an die Tür der Europäischen Union klopfen. Sie klopfen zu einer Zeit, wo einige in der EU beginnen zu zweifeln. Ich denke, dieses Klopfen ist extrem wertvoll, denn wenn das Klopfen an unserer Tür irgendwann aufhören sollte, dann könnte es zu spät sein, die Alarmglocken zu läuten, weil in der EU etwas gehörig schief läuft."
Große Fliehkräfte
Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen macht sich Sorgen, dass die EU in ihrer heutigen Verfassung vielleicht in Zukunft gar nicht mehr in der Lage wäre, weitere Mitglieder aufnehmen zu können. Vor zehn Jahren, so Verheugen, galt die Meinung, das Europa ein Friedensprojekt mit einem Wohlstandsversprechen war. Heute hielten viele diese Definition nicht mehr für stichhaltig. "Zum ersten Mal seit ich überhaupt politisch denken kann, habe ich Sorge um die Zukunft dieses Projekts. Die Fliehkräfte sind sehr, sehr stark", analysiert Günter Verheugen. Es gäbe keine einmütige Auffassung mehr darüber, wohin die Reise gehen soll. Leider entwickelten sich die Mitgliedsstaaten politisch und wirtschaftlich immer weiter auseinander. "Bis jetzt hält es noch zusammen, aber man hört ja und spürt ja förmlich, wie es ächzt."