Europas Impfdebakel
26. Januar 2021Die EU liegt mit den Corona-Impfungen im internationalen Vergleich weit zurück. Nach anfänglichen Organisationsproblemen bei der Impfkampagne fehlt es jetzt an Impfstoff. Die EU-Kommission hatte Aufträge für rund zwei Milliarden Dosen bei acht Herstellern abgeschlossen. Aber liefern kann bislang nur BioNTech/Pfizer, und der US-Konzern hat seine Produktion Ende Januar vorübergehend gedrosselt. AstraZeneca wiederum will nur 40 Prozent der angekündigten Mengen im ersten Quartal liefern. Werden andere Staaten besser bedient als die EU oder hat sie die falschen Verträge abgeschlossen?
Von der Erfolgsgeschichte zum Debakel?
Die EU-Kommission hat bislang ihre zentrale Impfstoff-Beschaffung als große Erfolgsgeschichte gefeiert, die allen Mitgliedsländern gleichermaßen Zugang verschaffen würde. Auf die jüngsten Meldungen aber vom stockenden Nachschub reagiert Sprecher Eric Mamer defensiv: "Wir sind sehr aktiv in Bezug auf die Zusammenarbeit mit den Unternehmen auf Basis der Verträge, die sie mit uns abgeschlossen haben. Die Frage ist, was alle Akteure tun können, um dem Prozess zum Erfolg zu verhelfen."
Am Montag fand ein Treffen des EU-Lenkungsgremiums mit AstraZeneca statt, um das Unternehmen an seine vertraglichen Verpflichtungen zu erinnern. Obwohl die Zulassung des Impfstoffs in der EU erst für Freitag erwartet wird, knüpfen sich daran hohe Erwartungen. Er ist preiswerter als die ersten Konkurrenzpräparate und leichter lagerbar. Das Unternehmen aber hatte am Freitag mitgeteilt, "die ursprünglichen Volumen werden geringer als erwartet", weil es Probleme bei einem Zulieferunternehmen gebe. Die EU hatte 400 Millionen Dosen bei AstraZeneca bestellt.
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides erklärte nach dem Treffen, die Antworten des Unternehmens seien nicht zufriedenstellend: "Der neue Plan ist nicht akzeptabel. (...) Die EU hat die Entwicklung und Produktion des Impfstoffes (mit) vorfinanziert und will davon profitieren. (…) Die EU will die vorbestellten und vorfinanzierten Dosen, der Vertrag muss vollständig erfüllt werden." Und Brüssel wolle Transparenz bei allen Transaktionen: "Unternehmen müssen uns frühzeitig benachrichtigen, wenn sie Impfstoffe an Drittländer exportieren." Dahinter steht der Vorwurf, AstraZeneca würde an Großbritannien weiter liefern, die EU aber zu kurz kommen lassen.
Der Gesundheitsexperte der EVP im Europaparlament, Peter Liese, zweifelt an den Erklärungen von AstraZeneca: "Die dünne Rechtfertigung, es gebe Probleme in der europäischen Zulieferkette, aber nicht anderswo, ist nicht glaubwürdig, weil es kein Problem ist, den Impfstoff von Großbritannien auf den Kontinent zu bringen", erklärte Peter Liese. Er hoffe auf eine umgehende Lösung durch AstraZeneca.
Produktionsprobleme scheinen die Regel
Lieferengpässe gibt es auch bei Pfizer. Unternehmenssprecherin Marie-Lise Verschelden erklärte: "Um alle Nachfragen zu befriedigen (...), insbesondere von der EU-Kommission, mussten wir unsere Kapazitäten erhöhen. Das heißt, dass Abläufe geändert werden müssen und wir neue Zulieferer brauchen. Diese Veränderungen müssen genehmigt werden. Das rechtfertigt die Tatsache, dass wir etwas Verzögerung haben." Schon ab Februar soll die Produktion, so versichert Pfizer, verstärkt laufen.
Die italienische Regierung will jetzt Pfizer und AstraZeneca auf Einhaltung der geschlossenen Verträge verklagen: "Wir wollen diese Dosen haben, keine Entschädigung, es geht nicht um's Geld", sagte Außenminister Luigi di Maio. Italien erwarte Verzögerungen bei seiner Impfkampagne von bis zu zwei Monaten, erklärte Vizegesundheitsminister Pierpaolo Sileri am Wochenende gegenüber dem Sender RAI. Und Premier Guiseppe Conte klagt: Der Verstoß gegen die Verträge richte "enormen Schaden" an, in Italien und anderswo.
Auch der französische Europaminister Clément Beaune forderte Pfizer auf, "seine Verpflichtungen einzuhalten". Irland ist ebenso verärgert, weil die Impfpläne des Landes durch die Lieferkürzungen über den Haufen geworfen werden. Das gleiche gilt für Schweden, Norwegen und verschiedene osteuropäische Länder. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, schlug daher auch einen scharfen Ton an: "Lieferverpflichtungen müssen eingehalten werden. (...) Wir werden alle Mittel prüfen, um eine schnelle Versorgung zu gewährleisten."
Was den Moderna-Impfstoff angeht, der in den USA entwickelt wurde, so soll ein Konsortium aus drei schweizerischen und anderen Pharmadienstleistern die Produktion für Europa unternehmen. Die Erfinder selbst haben noch nie einen Impfstoff in dieser Größenordnung hergestellt. Zu erwarten sind also auch dabei mögliche Produktionsprobleme und Lieferschwierigkeiten.
Druck ausüben, aber wie?
Das Problem ist, erklärt Gesundheitsexpertin Jutta Paulus, dass es mit der Entwicklung der Impfstoffe schneller gegangen sei als erwartet, die Unternehmen aber nicht die nötigen großen Kapazitäten für die Herstellung hätten. Bei den Impfstoffen auf Basis von MRNA (Pfizer, Moderna) gehe der Aufbau auch nicht so schnell: "Es sind neue komplexe Verfahren, es gibt strenge Richtlinien für die Herstellung und Beschäftigte müssen geschult werden."
Die Europaabgeordnete der Grünen sieht die Schuld für die Situation dabei nicht in Brüssel: "AstraZeneca soll dreistellige Millionenbeträge dafür bekommen haben, sofort und noch vor Zulassung zu produzieren. Wenn sie sich nicht an den Vertrag halten, ist das nicht Schuld der EU-Kommission." Man müsse sich fragen, warum Großbritannien weiter beliefert werde und die EU nicht.
Bei der Bewertung aber, wie man am besten gegen säumige Hersteller vorgehen solle, hätten die Abgeordneten ein paar Wissenslücken. Sie konnten inzwischen zwar die Verträge zwischen Kommission und Produzenten einsehen, die entscheidenden Passagen aber seien weiter geschwärzt, etwa bei Lieferfristen und Vertragsstrafen. Die Preise sind übrigens inzwischen dank einer belgischen Ministerin öffentlich geworden.
Grünen-Politikerin Paulus hält wenig vom Klageweg, denn was nütze ein Urteil in zwei bis drei Jahren. Besser sei es, die Lizenzen für die Impfstoffe zu öffentlichen Gütern zu erklären: "Es muss jetzt geteilte Lizenzen geben, denn die Impfstoffe sind mit öffentlichem Geld entwickelt worden." Es gebe Vorbilder, wie so etwas funktioniere, etwa als Indien und Südafrika bestimmte AIDS-Medikamente in eigene Produktion übernommen hätten. Ähnlich könne man nun in der Corona-Pandemie verfahren, so dass möglichst viele Hersteller gleichzeitig mit der Produktion der Impfstoffe beginnen könnten.
Dabei müssten die Erfinder entschädigt werden, es gehe hier nicht um "Enteignung". Haben so radikale Gedanken in Brüssel eine Chance? Aus Kommissionskreisen sei zu hören: Im Moment noch nicht, später sei es nicht ausgeschlossen. Auf jeden Fall habe die EU damit ein kräftiges Druckmittel in der Hand und könne mit der Keule zumindest winken, um die Pharmakonzerne zum Einlenken zu bewegen, soweit sie überhaupt ausreichende Mengen selbst produzieren könnten.