Europas vielfältige Volksabstimmungen
26. November 2011Soll Italien wieder in die Atomenergie einsteigen? Sollen in der Landwirtschaft Pestizide eingesetzt werden? Dürfen Ministerpräsidenten Gerichtsverhandlungen schwänzen? Fragen, über die die Italiener in Referenden abstimmen durften. In über 60 Jahren fanden in Italien mehr als 50 Volksabstimmungen statt. Damit gehören die Italiener einer Europarats-Studie zufolge zu den Europäern mit der größten Erfahrung in Sachen Volksabstimmung.
Auch in Irland stimmt das Volk im europäischen Vergleich oft über politische und gesellschaftliche Fragen ab: In 30 Referenden ging es unter anderem um das Recht auf Scheidung, das Verbot der Todesstrafe oder um Fragen der Abtreibung.
Die Schweiz ist Spitzenreiter bei Referenden
In der Schweiz ist dieses Element der direkten Demokratie historisch noch stärker verfestigt. Seit 1848 wurden mehr als 500 Referenden durchgeführt, hat der Europarat in seiner Studie notiert. In Verfassungsfragen muss das Volk immer entscheiden, über einfache Gesetze kann oder muss es ebenfalls – je nach Tragweite – abstimmen. Eine besonders aufsehenerregende Abstimmung war die vom November 2009 gegen den Bau von Minaretten.
In den meisten Staaten Europas ist das Referendum in der Verfassung festgeschrieben. In anderen, wie Norwegen oder den Niederlanden, steht es zwar nicht in der Verfassung, wurde aber trotzdem ausnahmsweise schon einmal durchgeführt. Zumeist wird die Befragung des Volkes nur in grundlegenden Fragen durchgeführt, zum Beispiel bei Fragen der Verfassung oder der Staatsorganisation, bei Änderungen des Territorialgebiets und Ähnlichem.
So stimmten 2004 der türkische Nordteil Zyperns und der griechische Südteil über die Wiedervereinigung der Insel ab. Die Insel ist seit 1974 geteilt; damals besetzten türkische Truppen den Nordteil der Insel als Reaktion auf einen von der Athener Militärjunta unterstützten Putsch der griechisch-zypriotischen Nationalgarde. Doch 30 Jahre nach der Teilung stimmte die Bevölkerung des Südens gegen den nach dem damaligen UN-Generalsekretär benannten Annan-Plan zu Wiedervereinigung. Das Land ist bis heute geteilt.
Der Volksentscheid über die Finanzierung des Bahnhofs-Bauprojekts "Stuttgart 21" am Sonntag (27.11.) ist eine Abstimmung auf Bundesland-Ebene. Nur die Bevölkerung von Baden-Württemberg darf ihre Stimme abgeben. Solche Abstimmungen auf regionaler beziehungsweise kommunaler Ebene gibt es ebenfalls in vielen europäischen Staaten. Einige Staaten dagegen verbieten lokale oder regionale Referenden: Aserbaidschan, Zypern, Georgien und auch die Türkei gehören dazu – alles Staaten mit ethnischen Konflikten im Inland oder mit Territorial-Konflikten mit Nachbarländern.
EU-Referenden erschüttern Europa
In vielen europäischen Staaten haben die Bürger über den Beitritt zur EU abgestimmt. Und auch zu EU-Verträgen sind die Bürger einiger Länder regelmäßig gefragt. Manchmal führt dies zu regelrechten politischen Kehrtwenden: So wurde zum Beispiel im Jahr 2004 in Rom feierlich der Vertrag über eine Verfassung für Europa unterzeichnet. Doch die Europäische Verfassung scheiterte 2005 an Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden; die Bürger lehnten die Verfassung ab.
Als Folge dieser europäischen Hängepartie sah man in einigen EU-Staaten von den Referenden ab. Über den nachfolgenden Lissabon-Vertrag fand nur in Irland im Jahr 2008 eine verbindliche Volksabstimmung statt: Die Iren lehnten ihn ab. Erst in einer zweiten Abstimmung - ein Jahr später - entschieden sich die irischen Bürger für den Lissabon-Vertrag.
Referendum gegen Berlusconi
Volksabstimmungen, so Kritiker, seien emotionale Entscheidungen ohne Sachverstand. Befürworter sehen in ihr ein Mittel direkter Demokratie. In manchen Fällen trifft beides zu: Die Frage, ob Ministerpräsidenten Gerichtsverhandlungen schwänzen dürfen, beantworteten die Italiener im Juni 2011 nämlich mit "Nein". Damit schmetterten sie ein Gesetz ab, das exakt auf den damaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi zugeschnitten war. Fünf Monate war der Druck des Volkes auf Berlusconi zu groß geworden, er musste zurücktreten.
Referendum oder Volksentscheid?
Formal ist eine Abstimmung über eine von Parlament oder Regierung ausgearbeitete Vorlage ein Referendum; eine Abstimmung, die von der Bevölkerung in die Wege geleitet wurde, heißt Volksentscheid. In der deutschen Verfassung wird aber, wie in vielen anderen, gar kein Unterschied gemacht.
Doch Referenden unterscheiden sich auch dem Inhalt nach: Es gibt Abstimmungen, die zwingend oder aber nur beratend und damit nicht bindend sind. Es gibt solche, die die Parlaments- oder Regierungs-Vorlage bestätigen müssen, und andere, die ein Gesetz aufheben oder aber aufschieben sollen.
Autorin: Daphne Grathwohl
Redaktion: Michael Borgers