Der Bürger entscheidet nur selten direkt mit.
24. November 2011In der deutschen Verfassung steht eindeutig: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Dabei sieht die Wirklichkeit seit Jahrzehnten so aus, dass Vertreter von Parteien als Vertreter des Volkes in parlamentarischen Gremien entscheiden. Dafür stellen sie sich alle vier Jahre zur Wahl. "Repräsentative Demokratie" nennt sich das. Die Bürger wählen also diejenigen, die als Politiker alle Dinge regeln. Allerdings sind seit rund zwanzig Jahren immer mehr Bürger mit vielen Entscheidungen der Berufspolitiker nicht mehr zufrieden. Mit der Bemerkung "dann sollen sie doch in eine Partei gehen und sich dort engagieren" schien für manche Parteifunktionäre das Problem gelöst.
Manche sprechen von Parteien-Diktatur
Die Zeit für eine Mitarbeit in einer der Parteien haben die meisten Bürger aber nicht unbedingt, ihr Alltag ist oft auch so schon kompliziert genug. Zudem lehnen die meisten Bundesbürger nervige Parteirituale, Postenrangeleien und die oft langsamen Entscheidungsprozesse ab. In Umfragen zeigt sich die Mehrheit der Bürger gleichzeitig überwiegend einverstanden mit dem System der an Parteien übergebenen Macht auf Zeit. Aber immer dann, wenn ihrer Meinung nach etwas "anzubrennen" droht, möchten die Menschen doch lieber direkt mitbestimmen können. Die einzige Möglichkeit, in Deutschland politisch Einfluß zu nehmen, bieten neben den Wahlen zu Landesparlamenten und zum Bundestag die sogenannten Volksentscheide. Sie sind im Unterschied zu Wahlen jederzeit möglich.
Bürger wollen bei vielen Themen mitreden
Der Wunsch nach Volksentscheiden wird immer stärker. Von 1990 bis 2010 wurden mit 269 Verfahren zehn Mal soviele Volksentscheide angestrebt, wie in den vorangegangenen 43 Jahren.
Wenn es zu Volksentscheiden kommt, geht es nicht um große weltpolitische Themen, sondern häufig um Fragen, die den Bürger unmittelbar vor seiner Haustüre beschäftigen. In den meisten Fällen liegen Pläne der regierenden Parteien vor, mit denen die Bürger nicht einverstanden sind.
So lässt die Landesregierung von Baden-Württemberg nach heftigen Protesten nun die Bevölkerung entscheiden, ob in der Landeshauptstadt Stuttgart ein funktionierender Bahnhof für viele Milliarden Euro umgebaut und unter die Erde verlegt werden soll.
In früheren Volksentscheiden ging es um höchst unterschiedliche Fragen. Einige Beispiele: Soll es eine Gemeinschaftsschule geben, statt strikt getrennte Schulen für unterschiedliche Intelligenzstufen? Soll eine zusätzliche Landebahn für den Flughafen gebaut werden? Soll es ein absolutes Rauchverbot ohne Ausnahme für alle öffentlichen Räume geben? Soll es ein anderes Müllbeseitigungskonzept geben? Soll es einen schlankeren Staat geben? Soll es eine Rechtschreibreform geben? Sollen alle Krankenhäuser unserer Stadt wirklich privatisiert werden? Muß das Land die Kinderbetreuung ausbauen? Soll es ein Wahlpflichfach Religion an Schulen geben? Die thematische Palette von Volksentscheidungen und Bürgerbefragungen reicht also von Bauprojekten über Bildungsfragen bis hin zu Entscheidungen der Lokalpolitik.
Angst der Politiker vor dem Volk unbegründet
Bei allen jemals beantragten Volksentscheiden in Deutschland ging es also weder um mehr Freibier, um totale Steuerbefreiung oder gar um die Wiedereinführung der Todesstrafe. Weil der Volksentscheid rein rechtlich der Entscheidung eines Parlaments gleichgestellt ist, müssen sich alle Volksentscheide ohnehin am Rahmen des Grundgesetzes orientieren. Unter dieser Bedingung sind dann alle Themen erlaubt. Die Deutschen haben bewiesen, dass sie bisher mit dem Instrument "Volksentscheid" verantwortungsvoll umgegangen sind.
Umso verwunderlicher ist es, dass sich seit Gründung der Bundesrepublik jede Regierung und jeder gewählte Bundestag strikt geweigert hat, einen Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen. Alle Anträge dazu wurden abgelehnt, zuletzt 2010 ein entsprechender Antrag der Partei "Die Linke".
Daher gab es sämtliche - auch die bereits erwähnten - Volksentscheide nur in einzelnen Bundesländern. Doch dort sind die Bedingungen für die Zulassung eines Volksentscheids noch sehr unterschiedlich geregelt. In Berlin hat ein Volksentscheid zum Beispiel nur den Charakter eines "Vorschlags", obwohl in anderen Bundesländern der Ausgang eines Volksentscheids als rechtlich bindend gilt.
Hohe Hürden für Volkentscheide
Einen Volksentscheid können Bürger jederzeit beantragen, die Kosten trägt in vollem Umfang der Staat. Damit ein entsprechender Antrag anerkannt wird, ist eine Unterschriftensammlung nötig, an der sich - je nach Bundesland - mindestens vier bis zwanzig Prozent aller Wahlberechtigten beteiligt haben. "Diese Bedingungen sind zu hoch und müssen nach unten korrigiert werden", sagt Heiner Geißler, der nach langen Jahren als Politiker zuletzt im Verfahren um den Stuttgarter Hauptbahnhof zwischen den Parteien vermittelt hat. Tatsächlich scheitern unter den bisherigen Umständen neun von zehn Anträgen auf Bürgerbegehren, weil sich schon für den Antrag nicht genügend Unterstützer finden. Damit werden die meisten Wünsche nach einem Volksentscheid abgelehnt. Das Land Hessen ließ 1981 sogar einen Antrag auf Volksentscheid gerichtlich verbieten. Eine Volksbefragung zu einer zusätzlichen Startbahn am Frankfurter Flughafen sei "unzulässig", hieß es einfach. Die Politik schottet sich bis heute ab.
Demokratie als Politik der Beauftragten
Setzt man sich mit den Argumenten auseinander, mit denen bisher bundesweite Volksentscheide abgelehnt werden, könnte der Eindruck entstehen, dass die meisten Parteien die ihnen übertragene Macht nur ungerne mit der Bevölkerung teilen wollen.
So argumentieren die Gegner bundesweit gültiger Volksentscheide zum Beispiel gerne, dass man in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht habe. Schließlich habe es ein Volksentscheid in der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre ermöglicht, dass Hitler an die Macht gekommen sei. Zwar haben Historiker dafür bis heute keinen Beleg gefunden, aber das Argument hält sich aus unerfindlichen Gründen überaus hartnäckig.
Ein weiteres Argument zur Abwehr von Forderungen nach bundesweiten Volksentscheiden lautet, die Bürger würden ja nur kurzsichtig und absolut eigennützig handeln. Handeln Parteien aber nicht auch eigennützig, fragen da die Befürworter eines bundesweiten Volksentscheids.
Das am häufigsten angebrachte Argument einer Ablehnung lautet allerdings: Die Bürger wissen einfach viel zu wenig über die komplexen Sachverhalte. Sie seien also unfähig, überhaupt komplizierte politische Entscheidungen zu treffen. Langjährige Beobachter des Alltags in deutschen Parlamenten und sogar Abgeordnete selbst müssen aber einräumen, dass auch Profi-Politiker oft selbst keine Ahnung haben. Deshalb haben Lobbyisten und Armeen von Politik-Beratern oft ein leichtes Spiel.
"Die meisten Abgeordneten gucken einfach nur, welches Kärtchen der Geschäftsführer der Partei hochhält, und so wird dann eben mit Nein oder Ja abgestimmt", bestätigen Berlin-Korrespondenten. Der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow (SPD) bekennt sich in seinem Buch "Wir Abnicker" ganz offen zu einer derartigen Ohnmacht.
Abwehr wird scheitern
Die Aktionen gegen das Bahnhofsprojekt in Stuttgart haben gezeigt, wie sachkundig die Bürger heute sind, wenn sie sich gegen offenkundigen oder vermeintlichen politischen Unfug zur Wehr setzen. "Da leistet das Internet viel und es haben Fachleute gestaunt", erzählt Heiner Geißler. Und er prophezeit das Ende der "Basta-Politik", die die Bevölkerung mit Fakten überrumpelt und mit autroritärem Gehabe entmündigen möchte. Inzwischen befürworten Inhaber höchster Staatsämter einen bundesweiten Volksentscheid als selbstverständliches Instrument einer echten Demokratie.
Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog setzt sich ebenso dafür ein, wie Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts. Selbst der amtierende Präsident des höchsten deutschen Gerichts, Andreas Voßkuhle, sieht im Zuge der Entwickungen in Europa einen bundesweiten Volksentscheid als unumgänglich an. Und die Frage, ob Volksentscheide tatsächlich ein Land destabilisieren, den Fortschritt oder Entscheidungsprozesse bremsen könnten, haben Forscher an der Universität Heidelberg untersucht. Ihr Fazit: Nein!
Während CDU und FDP Volksentscheide generell kritisch sehen und weitgehend ablehnen, können sich SPD und Grüne vorstellen, mehr demokratische Elemente zuzulassen. Auf jeden Fall sollen die Möglichkeiten von Bürgerbitten (Petitionen) ausgebaut werden. Mit dem Auftauchen neuer Parteien (zuletzt "die Piraten") wird der Unmut immer weiterer Bevölkerungskreise deutlich. Immer mehr Abgeordnete wissen längst, was sie brauchen, wenn sie wiedergewählt werden wollen: Politik muss wieder mehr Akzeptanz finden. Neben mehr Transparenz dürften da umfangreichere Mitentscheidungsmöglichkeiten hilfreich sein.
Autor: Wolfgang Dick
Redaktion: Hartmut Lüning