Ramush Haradinaj von dem Haager Tribunal freigesprochen
29. November 2012Erneut hat das UN-Kriegsverbrechertribunal am Donnerstag (29.11.2012) den früheren kosovarischen Regierungschef Ramush Haradinaj freigesprochen. Das Gericht ordnete dessen sofortige Freilassung und die seiner beiden Mitangeklagten, Idriz Balaj und Lahi Brahimaj, an. Es fehle an Beweisen für den Vorwurf von Mord, Verschleppung und Folter serbischer Zivilisten während des Unabhängigkeitskrieges im Kosovo 1998, erklärten die Richter. Damit bestätigte das Haager Tribunal ein früheres Urteil von April 2008.
Den ersten Kontakt mit dem Haager Tribunal hatte der 44-jährige Ramush Haradinaj zuerst im März 2005. Damals hatte das Haager Tribunal gegen ihn Anklage wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Kosovo-Konflikts (1998-1999) erhoben. Während des Konflikts war Haradinaj einer der bekanntesten und wichtigsten militärischen Anführer der Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) - einer Organisation der Kosovo-Albaner, die gegen die serbischen Truppen für die Unabhängigkeit des Kosovo kämpfte.
Als er 2005 nach Den Haag kam, hatte Haradinaj kurz zuvor sein Amt als Regierungschef des Kosovo niedergelegt. Damals erregte das große mediale Aufmerksamkeit, denn er war der erste ranghohe Politiker, der noch während seiner Amtszeit vom Haager Tribunal angeklagt wurde. Im März 2007 begann schließlich das Verfahren gegen ihn und zwei Mitangeklagte. Unter anderem ging es um die Verschleppung von Zivilisten, Folter, Vergewaltigung und Mord. Bis Anfang 2008 versuchte die damalige Chefanklägerin des Tribunals, Carla del Ponte, ihre Anklagepunkte durchzusetzen - vergeblich.
Auch der erste Freispruch aus Mangel an Beweisen
Am 3. April 2008 wurden Haradinaj und Idriz Balaj, einer seiner beiden Mitangeklagten, freigesprochen. Das Gericht stellte fest, dass die vorgelegten Beweise nicht ausreichten, um gezielte Angriffe der UCK auf die Zivilbevölkerung, insbesondere Serben und Roma, zu belegen. Haradinajs Stellvertreter, Lahi Brahimaj, dagegen wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt.
Die Freude über den Freispruch war bei Haradinajs Anhängern im Kosovo auch nach seinem ersten Freispruch groß. Vor allem in der westkosovarischen Region Dukagjini bereiteten ihm die Menschen mit UCK-Fahnen in den Händen einen triumphalen Empfang. Die Freude wurde auch dadurch nicht getrübt, dass die Haager Ankläger im Mai 2008 Berufung gegen den Freispruch einlegten. Sie bemängelten, dass sie während des Prozesses nicht genügend Zeugen hätten hören können.
In dem neuen Verfahren ging es hauptsächlich darum, die zusätzlichen belastenden Aussagen von zwei Zeugen abzusichern, die für die Anklageseite sehr wichtig waren. Am Ende des zweiten Prozesses forderten die Ankläger in Den Haag am 25.06.2012 eine "Mindeststrafe" von 20 Jahren Haft für Haradinaj. Dennoch konnten die zusätzlichen Aussagen der Zeugen das Urteil von 2008 nicht revidieren.
Die Chancen für eine Verurteilung wurden bereits im Vorfeld als gering eingeschätzt: Im Mai hatte das Tribunal Haradinaj bereits vor der endgültigen Urteilsverkündung zeitweilig auf freien Fuß gesetzt
Zeugen durch sozialen Druck eingeschüchtert
Die Befragung der Zeugen hatte sich damals tatsächlich als die größte Hürde im Prozess erwiesen. Etwa 100 Zeugen wurden gehört, von denen die Hälfte unter den besonderen Schutz des Tribunals gestellt wurde. Allerdings wurden ihre Namen im Kosovo trotzdem bekannt. Viele zogen daraufhin ihre Aussagen zurück, Berichte von Einschüchterungen der Aussagewilligen im Kosovo machten die Runde, potenzielle Zeugen kamen unter ungeklärten Umständen ums Leben, darunter auch ein Hauptzeuge, der bei einem Autounfall starb.
Behxhet Shala, Vorsitzender der Nichtregierungsorganisaton "Rat für Menschenrechte" in Kosovo, ist überzeugt, dass die Zeugen nur deshalb bekannt werden konnten, weil sie von Seiten des Tribunals nicht ausreichend geschützt wurden. Ähnlich sieht das Bodo Weber, Balkanexperte des "Democratization Policy Council". Er erklärt: "Das Haager Tribunal hat sich damals unzufrieden gezeigt, von KFOR (der internationalen Schutztruppe) und EULEX (eine Nato- bzw. eine EU-Mission im Kosovo, Anm. d. Red.) wenig Unterstützung beim Zeugenschutz bekommen zu haben." Die geringe Größe des Kosovo, wo praktisch jeder jeden kenne, habe ebenfalls eine ungünstige Rolle beim Zeugenschutz gespielt.
Die gespaltene Haltung der kosovarischen Bevölkerung zu Haradinaj erschwerte die Aufklärung. Viele Zeugen, die gegen Haradinaj in Den Haag aussagen sollten, standen unter enormem sozialen Druck und fürchteten, nach ihrer Rückkehr in den Kosovo als Verräter zu gelten. "Es ist ein Ungerechtigkeitsgefühl bei den Leuten zu spüren", sagt Ernst Köhler, Publizist und Historiker. Sie verstünden, so Köhler, die Anklagen gegen die UCK "fälschlicherweise als tendenzielle Kriminaliseriung ihres Widerstandkampfes". Köhler sieht falschen Patriotismus im Spiel. Die Gesellschaft sei in Bezug auf die Zeugenfrage zerrissen, das erkläre auch den Druck auf die Zeugen. Chefanklägerin Carla del Ponte sagte damals, sie habe in keinem anderen Prozess so große Schwierigkeiten gehabt, Zeugen zur Aussage zu bewegen wie im Fall Haradinaj. Und auch die Richter räumten bei der Urteilsverkündung ein, der Prozess habe in einer Atmosphäre der Unsicherheit stattgefunden.
Haradinaj auf freiem Fuß
Am 19. Juli 2010 ordnete die Berufungskammer der Internationale Strafgerichtshof die Wiederaufnahme des Prozesses gegen Ramush Haradinaj und seine Mitangeklagten an. Die Anklage sollte nun mehr Zeit bekommen, Aussagen von wichtigen Zeugen einzuholen. Haradinaj, inzwischen im Kosovo ein angesehener Oppositionspolitiker, verließ die kosovarische Hauptstadt Pristina und stellte sich wieder der Haager Justiz.
Der erneute Freispruch von Ramush Haradinaj wurde heute in Pristina begrüßt. Premierminister Hashim Thaci sieht in dem Freispruch Haradinajs das Vertrauen der Albaner an die internationale Justiz bestätigt. In Pristina bereitet man einen feierlichen Empfang für Ramush Haradinaj vor. Auch bei den albanischen Parteien in Mazedonien und in Albanien war Erleichterung und Freude zu spüren. In Serbien dagegen herrscht Enttäuschung. Der serbische Präsident, Tomislav Nikolic sagte heute, dass der Freispruch Haradinajs einen erneuten Beweis bringe, dass das UN-Tribunal "gegründet wurde, um Serben vor dem Gericht zu bringen"
Nun wartet auf Haradinaj eine neue politische Karriere. Hinter den Kulissen sind schon Vorbereitungen im Gange, Haradinajs Partei, die "Allianz für die Zukunft Kosovos", AAK, an der Regierung zu beteiligen. Zusammen mit der Partei des jetzigen Ministerpräsidenten Hashim Thaci, PDK, könnten dann die beiden politischen Erben der einstigen Befreiungsarmee Kosovos (UCK) gemeinsam die Geschicke des jüngsten Staates in Europa lenken.