Experte: Depression ist kein Motiv
23. Juli 2016DW: Herr Fiedler. Kann es sein, dass jemand aufgrund depressiver Züge seine Waffe gegen andere richtet?
Fiedler: Zunächst einmal muss man festhalten, dass depressive Züge dazu dienen, zu beschreiben, wie jemand auf andere Menschen wirkt. Die Polizei war bei der Beschreibung des Täters also sehr vorsichtig. Denn depressive Züge heißt noch lange nicht, dass jemand unter einer psychiatrischen Krankheit gelitten hat. Und selbst wenn: Jemand, der unter einer Depression leidet, steht eigentlich einem Amoklauf im Weg. Depressive richten ihre Aggressionen, wenn überhaupt, gegen sich selbst. Man kann also nicht davon ausgehen, dass eine Depression Ursache oder Auslöser einer solchen Tat ist.
Wie verbreitet sind depressive Züge oder Depressionen in Deutschland?
Depressive Züge hat vielleicht ein Drittel der Bevölkerung dieses Landes. Dieser Begriff ist sehr breit gefasst: Es kann bedeuten, dass jemand zurückgezogen lebt, viel grübelt, sich selbst Vorwürfe macht oder sich selbst für alles verantwortlich macht. Da spielen also eine Menge Dinge eine Rolle. Aber all diese Charaktereigenschaften bedeuten noch lange nicht, dass die betroffene Person krank ist. Depression ist hierzulande manchmal ein inflationär verwendeter Begriff. Eine wirkliche Depression ist eine schlimme Krankheit. Eine Depression beinhaltet, dass Symptome wie starkes Grübeln, frühes Erwachen, Schlaflosigkeit über einen Zeitraum von mehreren Wochen ein ständiger Begleiter sind.
Der Täter war ein 18-jähriger Deutsch-Iraner. Was könnte einen so jungen Menschen zu so einer grausigen Tat veranlasst haben?
Bei der Bewertung dieses Falles muss man sehr vorsichtig sein. Eines ist klar: Es gibt sicherlich nicht nur die eine Ursache für die Tat. Offenbar scheint der Täter in psychiatrischer Behandlung gewesen zu sein. Eine psychische Erkrankung kann daher eine Rolle gespielt haben, aber das alleine begründet diese Tat nicht. Immer wieder wird nach solchen Taten auch auf gewaltverherrlichende Computerspiele hingewiesen, die bei Jugendlichen so beliebt sind. Aber auch die Tatsache, dass er sogenannte "Ballerspiele" gespielt hat, kann nicht alleine als Begründung für so einen Gewaltausbruch herhalten. Wer so urteilt, der macht es sich zu einfach. Die Hintergründe für solche Taten sind in der Regel viel komplexer.
Im Zusammenhang mit solchen Taten fällt manchmal der Begriff "erweiterter Suizid". Was meint der Begriff?
Der Begriff zielt darauf ab, dass ein einzelner Täter mehrere Menschen aus seinem Umfeld mit in den Tod nimmt. Das könnte eine Mutter sein, die ihr Kind tötet oder ein Familienvater, der seine Familie tötet. In beiden Fällen sind die Täter der wahnhaften Vorstellung erlegen, dass die Opfer ohne sie nicht weiter lebensfähig wären. Insofern könnte man in solchen Fällen sogar von einem altruistischen Motiv sprechen. Beim Attentat von München ist das aber überhaupt nicht gegeben.
Erinnert Sie die Tat von München an Vorfälle in der Vergangenheit?
Ein naheliegendes Beispiel wäre der herbeigeführte Absturz der Germanwings-Maschine im vergangenen Jahr. Allerdings gilt auch hier: Die Handlung des Piloten war sicherlich nicht nur auf seine Depression zurückzuführen. Nach meiner Einschätzung hatte er zudem auch schwierige Persönlichkeitszüge. Dazu gehörte beispielsweise eine "wahnhafte" Wahrnehmung seiner Umgebung. Denken wir ein paar Jahre zurück: Auch der Attentäter von Winnenden ist wegen einer depressiven Erkrankung in Behandlung gewesen. Aber auch in diesem Fall galt: Eine ganze Reihe weiterer Faktoren haben zu der Tat geführt, die rein gar nichts mit der Depression zu tun hatten. Denn eine psychiatrische Diagnose "Depression" schließt eigentlich solche Taten aus.
Sehen Sie Zusammenhänge zwischen den Taten?
Ich fand schon auffällig, dass der Täter von München besonders junge Menschen im Visier gehabt zu haben scheint und erschossen hat. Die Opfergruppe erinnert somit schon sehr an das Attentat von Winnenden. Auch das Attentat in Norwegen kommt mir in den Sinn. Vor fünf Jahren hatte der norwegische Attentäter Anders Breivik besonders junge Leute als Opfer im Blickpunkt.
Das Interview führte Daniel Heinrich.
Der Psychologe und Suizidforscher Georg Fiedler arbeitet in Hamburg.