"Für Ankara ist Zypern eine Sicherheitsfrage"
23. Juli 2019Deutsche Welle: Herr Seufert, eine grundsätzliche Frage: Inwiefern widersprechen die türkischen Gasbohrungen vor Zypern internationalem Recht?
Günter Seufert: Seit 1994 ist das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) in Kraft und hat somit den Status eines etablierten Gewohnheitsrechts. Die Türkei ist im Gegensatz zu den anderen Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeers dieser Konvention nicht beigetreten. Jetzt haben aber Griechenland, Zypern, Israel, Ägypten und zum Teil auch der Libanon auf der Basis von UNCLOS jeweils bilaterale Abkommen zur gegenseitigen Abgrenzung ihrer exklusiven Wirtschaftszonen getroffen.
Weil die Türkei dieser Seerechtskonvention nicht beigetreten ist, stellt sie die bilateralen Verträge der anderen Anrainerstaaten in Frage. Damit unterminiert Ankara die Grundlage für eine friedliche Aufteilung der Nutzungsrechte im östlichen Mittelmeer. Praktisch hat die Türkei damit eine antitürkische Front und ihre Isolation in der Region provoziert. Jetzt versucht sie mit militärischen Drohgebärden und Aktionen, die dem internationalen Recht widersprechen, die Isolation zu durchbrechen.
Hat die türkische Regierung im Vorfeld der Gasbohrungen in den Gewässern Zyperns diese Entwicklung mit bedacht - dass sie die Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeers gegen sich aufbringen und sich isolieren wird?
Ich denke, das hat sie falsch eingeschätzt. Die Position der Türkei ist eigentlich unverändert. Sie ist seit jeher der Ansicht, dass die Republik Zypern Gasvorkommen in den Gewässern Zyperns mit den Zyperntürken teilen muss, da sie wie die Inselgriechen Teil Zyperns sind. Das heißt, nach der Meinung Ankaras müssen die türkischen Zyprer bereits bei der Planung der Exploration, des Baus von Verflüssigungsanlagen, des späteren Verkaufs usw. schon jetzt einbezogen werden. Diese Haltung Ankaras ist nicht neu. Was neu ist, ist, dass die Türkei im östlichen Mittelmeer keine Verbündeten mehr hat, die ihr politisch helfen könnten, ihre Ziele ein Stück weit durchzusetzen. Deshalb verfällt sie in militante Rhetorik und droht, die Armee einzusetzen, um ihrer Position Geltung zu verschaffen. Mit den Gasbohrungen isoliert sich die Türkei nicht nur im östlichen Mittelmeer. Die EU ist ihrem Mitgliedsland Zypern beigesprungen und hat Sanktionen gegen Ankara beschlossen. Nimmt das die Türkei in Kauf, dass die EU-Perspektive endgültig verloren geht?
Offensichtlich ist das der heutigen türkischen Regierung nicht wichtig genug. Es ist aufschlussreich, was vor wenigen Tagen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärt hat. Er sagte, dass trotz der Tatsache, dass sein Land mit Europa ökonomische Vereinbarungen getroffen hat und mit den USA militärische Bündnisse eingegangen ist, in seinen Augen die hauptsächliche Bedrohung für die Türkei von westlichen Ländern ausgeht. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Für die jetzige türkische Regierung sind die USA die primäre sicherheitspolitische Herausforderung. Das heißt, die Türkei fühlt sich heute von den USA stärker bedroht als von Russland. Das erklärt, warum diese "Sanktiönchen" der EU und die größere politische Distanz, die damit einhergeht, für die türkische Regierung nur eine Rolle unter "ferner liefen" spielen.
Zurzeit verfolgen wir auf Zypern ein sonderbares Schauspiel. Sowohl der Präsident der Republik Zypern, der Zyperngrieche Nikos Anastasiadis, als auch der Volksgruppenführer der Zyperntürken, Mustafa Akıncı, bekunden ihre Bereitschaft, die ins Stocken geratenen Wiedervereinigungsgespräche zum Laufen zu bringen. Gleichzeitig erklärt Ankara, es wolle in der nordzyprischen Stadt Famagusta eine Marinebasis bauen. Bislang war vorgesehen, dass diese Hafenstadt bei einer Wiedervereinigung den Inselgriechen zugesprochen wird. Wie passt das alles zusammen?
Der Ausbau von Famagusta zu einem türkischen Marinestützpunkt ist Teil der Militarisierung der türkischen Außenpolitik im östlichen Mittelmeer. Ankara spricht heute wieder davon, dass die Präsenz türkischer Truppen auf Zypern eine Voraussetzung für die Sicherheit der Türkei ist. Das entspricht der offiziellen türkischen Position vor dem Regierungsantritt der AKP im Jahr 2002, dass nämlich die Zypernfrage primär unter dem Aspekt der Sicherheitsinteressen der Türkei betrachtet wird.
Der Grund, weshalb die beiden Volksgruppenführer auf Zypern von Verhandlungen sprechen, steht auf einem anderen Blatt. Beide versuchen, internationale Legitimation zu gewinnen, beziehungsweise zu behalten. Das geht nur, wenn sie zumindest nach außen hin so tun, als wären sie an einer Lösung der Zypernfrage interessiert. Ich bezweifle, dass auch nur eine der beiden Seiten daran interessiert ist. Die Inselgriechen haben 2004 die Chance dazu vertan, als sie den Plan des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan ablehnten. Und die Inseltürken haben es versäumt, in den Jahren danach auf den einen oder anderen Kompromiss einzugehen.
Günter Seufert ist seit 2010 beim Berliner Think Tank Stiftung Wissenschaft und Politik für die Türkei und Zypern zuständig. Davor hat er mehrere Jahre in beiden Ländern gelebt und auch gelehrt. In Büchern und einer großen Anzahl Studien hat sich Seufert wiederholt zu den Geschehnissen in der Türkei und zur Zypernfrage geäußert.