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Gesellschaft

Familiennachzug: Ola fehlt ihnen so

1. August 2019

Seit einem Jahr dürfen subsidiär geschützte Flüchtlinge wie Hussain und Ali Alsukhili ihre engsten Angehörigen nach Deutschland holen. Ein Besuch bei der syrischen Familie offenbart ein Dilemma des Familiennachzugs.

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Reportage über die Familie Alsukhili
Ali Alsukhili (zweiter von rechts) holt seine Familie am Flughafen abBild: Privat

Am vorletzten Tag des Jahres 2018 wird endlich wahr, worauf Familie Alsukhili zwei Jahre lang gewartet hat: Am Frankfurter Flughafen finden sie wieder zusammen. "Es war ein Festtag für uns. Auf der Heimfahrt mit dem Auto haben wir gehupt vor Freude", erzählt Ali, der älteste Sohn der Familie. Er war gemeinsam mit seinem Vater Hussain 2015 nach Deutschland gekommen. Die Mutter und fünf weitere Geschwister blieben damals zunächst in Syrien. Das jüngste Kind war gerade erst sechs Monate alt.

Reportage über die Familie Alsukhili
Die jetzt 4-jährige Laia war erst sechs Monate alt, als ihr Bruder und ihr Vater Syrien verließenBild: DW/L. Hänel

Ali und Hussain sind subsidiär geschützte Flüchtlinge. Einen sogenannten subsidiären Schutz erhält, wer zwar nicht verfolgt wird, bei einer Rückkehr ins Herkunftsland aber trotzdem in Gefahr wäre - etwa weil dort Krieg herrscht. Das betrifft vor allem Flüchtlinge aus Syrien. Seit genau einem Jahr, seit dem 1. August 2018, dürfen subsidiär Geschützte wieder ihre engsten Familienangehörigen nachholen. 

Dabei arbeiten drei Behörden zusammen. Wenn ein Familienangehöriger in einer deutschen Auslandsvertretung einen Antrag auf ein Visum gestellt hat, wird der an die Ausländerbehörde in Deutschland weitergegeben. Dort muss der subsidiär Geschützte selbst vorsprechen. Nach der Prüfung wird der Antrag an das Bundesverwaltungsamt weitergeleitet, wo eine Entscheidung gefällt wird. Das Amt meldet dann positive Bescheide zurück an die Auslandsvertretungen, die ein befristetes Einreisevisum ausstellen. In Deutschland wird dann über den weiteren Aufenthaltsstatus entschieden.

Eine fehlt...

Sobald sie konnten, beantragten auch Ali und Hussain ein Visum für die restliche Familie. Drei Monate dauerte es. Dann waren sie da - am 30. Dezember 2018. Zwei Tage lang haben Ali und sein Vater vorher die kleine Wohnung geputzt. Heute lebt die Familie am Stadtrand von Dortmund. Es gibt viel Platz für die große Familie. Die Kleinste, die 4-jährige Laia, turnt auf dem beigefarbenen Sofa. Auf dem Tisch dampft Tee.

Reportage über die Familie Alsukhili
Die minderjährigen Kinder der Familie Alsukhili haben ein Visum nach Deutschland erhaltenBild: DW/L. Hänel

Ab und zu lugen die 11-jährige Hala und ihr 13-jähriger Bruder Abdulrahman ins Zimmer. Sie haben gerade Sommerferien. Mutter Aischa fängt die kleine Laia ein, die durchs Zimmer rennt, und setzt sie sich auf den Schoß. Neugierig schaut Laia auf die Pässe, die ihre Mutter auf den Tisch gelegt hat; es sind fünf. Alle enthalten das begehrte Visum. Aber einer fehlt.

Alis Zwillingsschwester Ola ist noch immer im fernen Syrien. Aischa fällt es schwer, über ihre Tochter zu sprechen. Für sie war die Ausreise nach Deutschland nicht nur ein freudiger Tag. "Ich habe im Flugzeug viel geweint. Ich bin gekommen, um meinen Sohn und meinen Mann zu sehen, aber ich musste meine Tochter zurücklassen. Mein Herz ist deshalb immer noch in Syrien."

Reportage über die Familie Alsukhili
Die Mutter der Familie, Aischa, zeigt ein Foto ihrer Tochter OlaBild: DW/L. Hänel

Nur Minderjährige und Ehepartner

Ola ist im April 2016 volljährig geworden - zu früh. Denn nur wer minderjährig oder verheiratet ist, fällt unter die Familienzusammenführung, wie sie seit August 2018 gehandhabt wird. Der einzige Ausweg: den Antrag zu stellen, bevor der Angehörige 18 Jahre alt wird. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, dass volljährige Angehörige nur in "außergewöhnlichen Härtefällen" nach Deutschland einreisen dürfen.

Karim Alwasiti berät für den Flüchtlingsrat Niedersachsen gemeinsam mit Pro Asyl zum Thema Familienzusammenführung. Immer wieder kommt er in Kontakt mit Familien mit volljährigen Angehörigen. "Das ist eine Lücke im System. Die Anträge müssen gestellt werden, bevor die Kinder 18 werden. Sie nicht bei sich zu haben, ist für die Eltern eine schwere Belastung."

Obergrenze wird ausgeschöpft

Bis August 2018 war der Familiennachzug für subsidiär Geschützte mehr als zwei Jahre lang ausgesetzt worden. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass zunächst die Flüchtlinge, die bereits da waren, versorgt werden konnten.

In zähem Ringen verständigte sich die Große Koalition dann darauf, ab August 2018 wieder engste Familienangehörige, also Eltern und minderjährige Geschwister und Kinder, nach Deutschland kommen zu lassen. Dabei gibt es eine Obergrenze: Pro Monat dürfen nicht mehr als 1000 Menschen kommen.

Als die Regelung im August 2018 in Kraft trat, wurden zunächst nur wenige Visa erteilt. Im August waren es ganze 42. Ab Januar 2019 hatte sich das Verfahren eingespielt, inzwischen wird die Obergrenze von 1000 fast immer ausgeschöpft.

Infografik genehmigte Visa für Familienangehörige DE

Hussain Alsukhili ist ein ruhiger Mann. Ab und zu geht er ans Fenster zum Rauchen. Er überlässt es seinem Sohn, über die Zeit zu erzählen, die er von seiner Frau und den Kindern getrennt leben musste. Ali spricht Deutsch, er übersetzt für seine Eltern. "Für mich war es leichter. Ich konnte etwas Englisch", erinnert sich Ali. "Aber mein Vater saß im Deutschunterricht und konnte nicht lernen. Er hat die ganze Zeit gegrübelt und nachgedacht." Manchmal hörten sie wochenlang nichts von ihrer Familie, weil das Telefonnetz in Syrien nicht funktionierte.

Das Smartphone ist auch jetzt ihre einzige Verbindung zu Ola. Einmal die Woche versuchen sie mit ihr zu sprechen. Manchmal schaffen sie es, ihr über Bekannte Geld zu schicken. 

Reportage über die Familie Alsukhili
Die syrische Familie Alsukhili in ihrem Wohnzimmer in DortmundBild: DW/L. Hänel

Obwohl Ola noch immer in Syrien ist, ist es fast so, als säße sie an diesem Vormittag mit am Couchtisch. Immer wieder wollen die Eltern über sie sprechen. Es gehe ihnen gut in Deutschland, aber Ola fehle. Mutter Aischa macht sich permanent Sorgen, denn in Syrien lebt kein Verwandter der Familie mehr. Die 21-Jährige ist auf sich allein gestellt. "Das ist gefährlich in Syrien", erklärt Ali. "Oft sagt meine Mutter, nachdem wir am Telefon mit meiner Schwester gesprochen haben, dass sie zurück nach Syrien muss. Aber das geht natürlich nicht."

Bis Ende Juni diesen Jahres wurden 8758 Visa erteilt - an Familien wie die Alsukhilis, die sich nun ein Leben aufbauen können, ohne sich zu sorgen - eigentlich. Ola hat vor acht Monaten einen Termin beantragt, um bei der Auslandsvertretung in Beirut einen Antrag auf Einreise nach Deutschland stellen zu können. Keiner weiß, wann und ob sie diesen Termin je bekommen wird.