Widerstandsgruppe "Rote Kapelle"
26. April 201326. April 1951: Unter der Überschrift "Was war die Rote Kapelle" erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein namentlich nicht gekennzeichneter Artikel. Darin heißt es: "Der frühere Generalrichter der deutschen Luftwaffe, Dr. Manfred Roeder, hat … erklärt, die Mitglieder der Roten Kapelle seien keine idealistischen Widerstandskämpfer, sondern gemeine Landesverräter und Spione gewesen."
Damit begann eine diffamierende Auseinandersetzung um die Bedeutung der deutschen Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime. Als Gewährsmann zitierte die Tageszeitung ausgerechnet einen NS-Täter. Denn Roeder, Spitzname "Bluthund Hitlers", war nicht nur überzeugter Nationalsozialist gewesen, sondern als ehemaliger Militärrichter mitverantwortlich für Todesurteile im Prozess gegen die Widerstandskämpfer der "Roten Kapelle".
Netzwerk deutscher Patrioten
Bis heute ist die öffentliche Wahrnehmung der "Roten Kapelle" von den Verklärungen der Nachkriegsjahre und des Kalten Krieges geprägt. Nationalsozialisten wie Roeder trugen entscheidend zur Legendenbildung mit bei. Den zunächst locker organisierten Freundeskreis denunzierte man als straff geführte, von der Sowjetunion finanzierte "fünfte Kolonne". Selbst der Name "Rote Kapelle" war der Widerstandsgruppe von der NS-Spionageabwehr gegeben worden.
Dabei war die "Rote Kapelle" kein Agentenring, sondern ein Netzwerk von Hitler-Gegnern. Der Widerstandsgruppe um den Wissenschaftler im Reichswirtschaftministerium Arvid Harnack und den Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium Harro Schulze-Boysen gehörten über 150 Personen an: Männer und Frauen, Atheisten und Christen, Soldaten, Arbeiter und Angestellte, Intellektuelle, Künstler, Kommunisten und Bürgerliche – Personen, die aus allen gesellschaftlichen Schichten kamen und unterschiedliche Weltanschauungen vertraten.
Ihr Ziel war es, Hitler zu beseitigen und das rasche Ende des Krieges herbeizuführen, um einen demokratischen Neubeginn zu initiieren. Deutschland sollte dabei als Mittler zwischen West- und Osteuropa auftreten und zur Verständigung mit der Sowjetunion beitragen.
Diskussionsrunden bildeten den Rahmen für die Zusammenkünfte der Regimekritiker. Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 verstärkte sich die Zusammenarbeit der vorher eher verstreut agierenden oppositionellen Freundeskreise. Verbindungen zur Sowjetunion wurden aufgenommen, wobei unter Historikern noch immer umstritten ist, was und wieviel an militärischen Informationen der russischen Seite übermittelt wurde.
Bürgerliche Biographien
Arvid Harnack, geboren 1901 als Neffe des berühmten Theologen Adolf von Harnack, und Harro Schulze-Boysen, Jahrgang 1909 und Großneffe des Admirals von Tirpitz, galten von ihrer Ausbildung und ihrem Temperament her als unterschiedliche Persönlichkeiten. Harnack war zeitgenössischen Schilderungen zufolge ein gebildeter, sensibler Wissenschaftler, der im Verlauf seiner wirtschaftswissenschaftlichen Studien und angesichts der Weltwirtschaftskrise ab 1929 im planwirtschaftlichen System der Sowjetunion eine mögliche und akzeptable Alternative zum Kapitalismus sah.
Anfang der 1930er Jahre hatte er die Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Planwirtschaft gegründet. Im Reichswirtschaftsministerium war er rasch in eine leitende Position aufgestiegen, in der er Kontakte zu vielen ausländischen Missionsangehörigen bekam. Um ihn und seine US-amerikanische Frau Mildred Fish sammelten sich zahlreiche Gegner des Regimes. Es war kein konspirativ geführter Zirkel von Verschwörern, sondern ein Gesprächskreis, der sich im Verlauf des Krieges mehr und mehr zusammenschloss.
Harro Schulze-Boysens Leben spiegelte in den Weimarer Jahren das stürmische Auf und Ab vieler junger Menschen wieder. Zeitweilig stand er völkischen Strömungen und dem NSDAP-Flügel um Gregor Strasser nahe. Doch im Frühjahr 1933 wurde er von der SA verhaftet und fast zu Tode geprügelt. Er entschloss sich danach zu einem "Marsch durch die Institutionen". 1937 trat er sogar in die NSDAP ein, um den Schein zu wahren. Schulze-Boysen arbeitete in Hermann Görings Luftfahrtministerium und machte als Offizier in der Spionageabwehr Karriere. Auch um ihn und seine Frau Libertas Haas-Heye sammelten sich Gleichgesinnte, die das NS-Regime ablehnten. Um die Jahreswende 1939/40 kam es zu intensiveren Kontakten zwischen Harnack und Schulze-Boysen und damit auch zum Verschmelzen beider Gruppen, die als "Rote Kapelle" berühmt wurde.
Keine Superspione
So heterogen wie ihre Mitglieder waren auch die Aktivitäten der "Roten Kapelle". Man dokumentierte Gewaltverbrechen des NS-Regimes, versteckte politisch oder rassisch Verfolgte, verteilte heimlich Flugblätter und half Zwangsarbeitern. Darüber hinaus versuchten Mitglieder der "Roten Kapelle", Kontakt mit anderen Widerstandgruppen in den besetzten Ländern aufzunehmen.
1941 hatte Harnack den sowjetischen Botschaftsangehörigen und Nachrichtenoffizier Alexander Korotkow kennengelernt, der ihm ein Funkgerät besorgte. Als sich ein Krieg gegen die Sowjetunion abzeichnete, war Schulze-Boysen bereit, vertrauliche Informationen weiterzugeben. Doch seine Warnungen vor einem Angriffskrieg gegen die Sowjetunion wurden von Stalin und seinem Geheimdienst als Desinformationskampagne bewertet.
Im Gegensatz zum Bild der Superspione, das später von ihnen gezeichnet wurde, stellten sie sich eher dilettantisch an. Schulze-Boysen und Harnack hatten nie eine geheimdienstliche Ausbildung erhalten. Der Funkkontakt mit den Sowjets scheiterte häufig an Bedienungsfehlern oder daran, dass die tragbaren Sender defekt waren.
Schließlich gelang es der Gestapo 1942, den Funkcode der "Roten Kapelle" zu entschlüsseln. Zwischen August 1942 und März 1943 wurden über 100 Mitglieder verhaftet. Die meisten verurteilten der berüchtigte Volksgerichtshof und das Reichskriegsgericht zum Tode, einige begingen in der Haft Selbstmord. Die Anführer der "Roten Kapelle" und ihre Ehefrauen wurden in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Schulze-Boysen schrieb im Abschiedsbrief an seine Eltern: "Dieser Tod passt zu mir."
Nach Kriegsende, knapp ein Jahr, nachdem der Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen war, nahmen Agenten des US-Geheimdienstes CIC, dem Vorläufer der CIA, Kontakt zu Manfred Roeder auf. Den US-Amerikanern ging es nicht darum, Kriegsverbrechen und Foltermethoden bei der Inhaftierung, beim Verhör und bei der Strafvollstreckung gegen die antifaschistische Widerstandsgruppe aufzudecken. Vielmehr wollte man Informationen über die geheimdienstlichen Praktiken der Sowjets während des Krieges gewinnen. Kriegsverbrecher und überzeugte Nationalsozialisten wie Roeder galten den US-Amerikanern aufgrund ihrer antikommunistischen Haltung als wichtige Informanten.
Umstrittenes Gedenken
In der DDR wurden Harnack, Schulze-Boysen und die Mitglieder der "Roten Kapelle" als antifaschistische Widerstandskämpfer geehrt und erhielten 1969 posthum Orden. In der Bundesrepublik aber galten ihre Mitglieder während des Kalten Krieges als Verräter. Man bezichtigte sie sogar der Mitschuld an der Niederlage von Stalingrad. Erst zu Beginn der 1990er Jahre wurde das Bild von den Vaterlandsverrätern revidiert und den Mitgliedern ihre individuelle Biographie zurückgegeben.
Das "Deutungsmonopol der NS-Verfolgungsinstanzen", heißt es in einer Veröffentlichung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, habe einer gerechten Bewertung der "Roten Kapelle" lange Zeit im Wege gestanden. Inzwischen wird der Gruppe die gleiche Achtung und Ehrung entgegengebracht wie anderen Angehörigen des deutschen Widerstandes. Seit 2011 steht in Berlin-Lichtenberg ein Denkmal zu Ehren der Mitglieder der "Roten Kappelle".
Warum sollte man sich heute noch mit dem Widerstand gegen das NS-Regime beschäftigen? "Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus stellt eine ganz grundsätzliche Frage, nämlich die Frage nach dem menschlichen Verhalten unter Zwang und unter den Bedingungen einer Diktatur", sagt der Politologe und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Johannes Tuchel: "Wer sich mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus beschäftigt sieht, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gab. Entweder konnte man mitmachen, die NS-Diktatur unterstützen, man konnte als Zuschauer dabei stehen oder man konnte sich der NS-Diktatur widersetzt. Und das ist keine museale, sondern eine ganz aktuelle Frage. Und die stellt sich nicht nur dem Historiker, sondern jedem politisch Denkenden: Wie würde ich mich unter den Bedingungen einer Diktatur verhalten, auch wenn sie nicht als NS-Diktatur daher kommt."