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Literatur

"Geschichte hinter dem Verbrechen schreiben"

Sabine Peschel
19. Juni 2019

Die Autorin Fernanda Melchor wurde mit dem Internationalen Literaturpreis prämiert. Im DW-Interview erzählt sie vom Überlebenskampf und Aberglauben in Mexiko.

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Fernanda Melchor Autorenfoto Porträt
Bild: privat

"Saison der Wirbelstürme", 2017 in Mexiko im Original als "Temporada de huracanes" veröffentlicht, spielt in einer Welt voller Gewalt und Aberglauben. La Matosa heißt das Dorf im trockenen Küstenhinterland von Veracruz, in dem der Mord an einer Frau, die alle nur als "Hexe" kennen, in ein vielstimmig erzähltes Sodom und Gomorra führt.

DW: Was für eine Nachricht war es, die Sie dazu brachte, den Stoff für Ihren Roman zu recherchieren?

Fernanda Melchor: Nach meinem Journalistikstudium arbeitete ich in Veracruz im Büro für Öffentlichkeitsarbeit meiner Uni. Dort las ich jeden Tag in den lokalen Zeitungen all die Berichte über Gewaltverbrechen in dieser Gegend. 2009 bis 2013 wurde über viele Verbrechen aus Leidenschaft oder einer irren Vorstellung von Liebe berichtet. Und dann sah ich diese Meldung über eine Frau, die in einem kleinen Dorf tot im Kanal gefunden worden war.

Der Journalist schrieb, dass dieses Verbrechen durch Hexerei motiviert war. Es las sich, als wäre das etwas völlig Selbstverständliches. Der Mörder habe die Frau umgebracht, weil sie ihn durch Hexerei dazu bringen wollte, sich wieder in sie zu verlieben. Diese Information nahm mich gefangen und ließ mich nicht mehr los. Ich musste über die Geschichte hinter diesem Verbrechen schreiben.

Hatten Sie von vornherein an einen Roman gedacht?

Eigentlich wollte ich vor Ort recherchieren, aber in diesen kleinen Dörfern verbargen sich die Narcos, um ihren Drogenhandel abzuwickeln. Ich wäre sofort aufgefallen, wenn ich dort Fragen gestellt hätte. Ich wollte mich lieber nicht in Gefahr bringen. Also tröstete ich mich damit, dass ich etwas genauso Interessantes erzählen könnte, wenn ich mich in das Innenleben der Personen, die dieses Verbrechen begangen hatten, in fiktiver Form hineinversetzte.

Mexiko Vorstadt Dorf  Guanajuato
Einkaufsstraße einer mexikanischen Kleinstadt Bild: picture-alliance/dpa

Sie haben über Gewalt gegen Frauen geschrieben, Frauen, die in einem Leben von Armut, perverser Sexualität und Aberglauben gefangen sind. Inwieweit spiegelt das die Realität der mexikanischen Gesellschaft?

Die mexikanische Gesellschaft ist sehr divers. Aber es stimmt, dass es eine perverse Ungleichheit gibt, die zu wirklich dunklen und gefährlichen Verhältnissen führt und Verbrechen verursacht. Ich wollte nichts anderes, als zu zeigen, was an einem ganz kleinen Ort geschehen kann, der vom Staat und der Gesellschaft vergessen ist. Was mit Menschen passiert, um die sich niemand kümmert.

Ist Mexiko in Ihrer Wahrnehmung auf dem Weg in den Abgrund?

Ich würde gern ein optimistischeres Bild zeichnen. So vieles läuft falsch in Mexiko, vor allem, wie höchst unfair der Reichtum verteilt ist. Millionen Menschen haben einfach nichts, viele junge Leute haben keine Zukunft, weil sie keine Gelegenheit bekommen, ihrer Not zu entfliehen.

Wo bleiben Liebe und Freundschaft in Ihrem Roman? Gibt es keinen Raum für Empathie?

Im fiktiven Dorf La Matosa gibt es bestimmt Liebe und Freundschaft, aber die Figuren meines Romans sind in einem Teufelskreis gefangen. Jeder dieser Protagonisten ist auf der Suche nach Liebe, aber da ihnen nie welche entgegengebracht wurde, wissen sie nicht, was Liebe ist. Sie verwechseln sie mit Gier, Dankbarkeit oder Verlangen. Es ist schwer, Liebe zu suchen, wenn man dabei ist zu ertrinken, kurz davor steht, alles, sogar die eigene geistige Gesundheit zu verlieren. Ich glaube, sie verwechseln alles, aber ich habe "Saison der Wirbelstürme" eigentlich immer für einen Roman über die Liebe gehalten.

Die Menschen, die den Staat repräsentieren, Polizisten, eine Sozialarbeiterin, Politiker, sind entweder brutal, herzlos oder korrupt. Wo ist der Staat?

Er ist abwesend, wie in so vieler Hinsicht in Mexiko. Wenn zum Beispiel eine Frau in Mexiko vergewaltigt oder sexuell missbraucht wird, und sie will das vor Gericht bringen, bedeutet das, dass sie ein zweites Mal zum Opfer gemacht wird. Mexiko hat die höchste Rate an Teenagerschwangerschaften in der Welt. Es gibt kein Recht auf Abtreibung. Man kann sie höchstens in Mexiko-City vornehmen lassen, aber dann muss man selber dafür bezahlten. In der Figur der 13-jährigen Norma wollte ich davon erzählen.

Mexiko  Prostitution
Prostitution in MexikoBild: Getty Images/L. Acosta

Sie erzählen in einem sehr schnellen Rhythmus und folgen den Gedanken und Bildern in den Köpfen ihrer Protagonisten ohne je innezuhalten. Sie geben die äußerst vulgäre Sprache ihrer Figuren in einer höchst kunstvollen Weise wieder. Wie haben Sie Ihre Erzählperspektive und diese atemlose Sprache gefunden?

Ich glaube, drei Viertel meiner Arbeit an diesem Roman bestand darin, diese Stimme zu finden. Als ich anfing zu schreiben, hörte ich mit der Zeit die Stimmen der verschiedenen Figuren, die mir ihre Geschichte erzählten. Aber ich wollte nicht, dass das Buch nur eine Ansammlung von Zeugenberichten wäre, es sollte eine Einheit sein. Deshalb riet mir ein Freund genau im richtigen Moment, Gabriel García Márquez' "Der Herbst des Patriarchen" zu lesen. Ein Buch, das eine Erzählerperspektive hat, die dem, was ich suchte, sehr nahe kam. Also versuchte ich, eine Erzählerstimme zu finden, die gleichzeitig in den Figuren und außerhalb von ihnen sein sollte. Und eine abwechselnde Folge von Stimmen, die ihre Geschichte erzählten - und wie bei dem Spiel Stille Post veränderte sich die Geschichte jedes Mal.

Es ist in Ihrem Buch viel von Hexerei und magischen Erscheinungen die Rede, aber es ist kein Roman des magischen Realismus. Hätte das eigentlich nicht gut gepasst?

Ich glaube, es war ein mexikanischer Journalist, der mir sagte, "Sie schreiben einen alptraumhaften Realismus." Ich bin natürlich mit García Márquez aufgewachsen, und ich habe jede Menge Horrorgeschichten gelesen, Stephen Kings Romane zum Besipiel. Ich selber glaube nicht an übernatürliche Dinge, aber ich bin mir bewusst, dass viele Menschen in Mexiko, vor allem in der Gegend von Veracruz, an spirituelle Dinge glauben, oder auch an UFOs.

Ich wollte diese seltsame Form der Spiritualität, die ich sehr interessant finde, in meinem Roman wiedergeben. Die beschrieben Rituale sind also tatsächlich die der Hexen in Veracruz.

Wie wurde Ihr Roman in Mexiko aufgenommen?

Sehr gut, vor allem von jungen Leuten. Und das ist etwas Besonderes, denn das heißt, dass er an etwas anknüpft, was die junge Menschen berührt. Für ein literarisches Buch hat er sich mit 15.000 Exemplaren bisher sehr gut verkauft.

Für Journalisten ist das Leben in Mexiko oft gefährlich, es gab viele Journalistenmorde. Haben Sie manchmal Angst?

Ich arbeite nicht mehr als Journalistin, und das Bücherschreiben ist nicht so gefährlich, denn man steht viel weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit als als Investigativreporter. Ich glaube deshalb, dass ich, abgesehen von der ganz alltäglichen Gefahr, mit der alle Bürger Mexikos leben, in Sicherheit bin.

Was bedeutet der Internationale Literaturpreis für Sie?

Ich fühle mich wirklich geehrt und bin dankbar. Als ich erfuhr, dass "Saison der Wirbelstürme ins Deutsche übersetzt werden sollte, habe ich mich gefragt, wie das funktionieren sollte. Dann sagte mir der Verlag, dass Angelica Ammar eine vorzügliche Übersetzerin sei und ich mich auf sie verlassen könnte. 

Buchcover l Saison der Wirbelstürme von Fernanda Melchor
Die preisgekrönte deutsche Übersetzung von Angelica AmmarBild: Wagenbach Verlag

Ich fühle mich in Deutschland jetzt weniger allein. Der Preis bedeutet, dass sich mehr Menschen für mein Buch interessieren werden. Und vielleicht finden sie einen Weg, das, was den Figuren in meinem Buch zustößt, mit ihrem eigenen Leben in Verbindung zu bringen. Denn, seien wir ehrlich, selbst wenn man in einem privilegierten Land lebt, hat man doch manchmal Probleme und ist niedergeschlagen.

Ein Buch in einer einzigen Sprache zu haben, ist, als kämpfte man allein. Jetzt, mit der deutschen Übersetzung neben denen in anderen Sprachen, kommt es mir vor, als hätte ich immer mehr Gesellschaft.

 

Fernanda Melchor, geboren 1982 in Veracruz, Mexiko, arbeitete als Journalistin und veröffentlichte Erzählungen und Reportagen. "Saison der Wirbelstürme ist ihr zweiter Roman. 2018 wurde sie vom PEN Mexiko für ihre herausragende literarische und journalistische Leistung ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Anna-Seghers-Preis. Am 18. Juni 2019 wurden sie und ihre deutsche Übersetzerin Angelica Ammar vom Berliner Haus der Kulturen der Welt mit dem Internationalen Literaturpreis geehrt.

Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019. 240 Seiten

Das Gespräch führte Sabine Peschel.