Flüchtlinge und Einheimische für Lesbos
11. September 2018Vor drei Jahren stand die idyllische griechische Insel Lesbos plötzlich im Fokus der Weltöffentlichkeit. Damals kamen täglich um die 3000 Menschen an den Stränden der beliebten Urlaubsinsel an. Und obwohl die Journalisten die Hotels der Insel inzwischen wieder verlassen haben und die Touristen wieder wie üblich durch den Hafen der Insel flanieren, ist die Lage immer noch extrem angespannt. Im berüchtigten Flüchtlingscamp von Moria leben im Moment rund 8000 Menschen, obwohl es eigentlich nur für 2500 Flüchtlinge gebaut wurde. Es kommt oft zu Gewalt, und sogar Kinder, nicht älter als zehn Jahre, versuchen sich das Leben zu nehmen. Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" erklärte Moria zum "schlimmsten Flüchtlingscamp der Welt".
Im Stich gelassen
Doch die Situation hat nicht nur Auswirkungen auf diejenigen, die im Camp untergebracht sind. Verglichen mit den besten Zeiten kommen nur noch halb so viele Touristen nach Lesbos. Viele lokale Unternehmen haben geschlossen und die Kleinkriminalität auf der Insel hat zugenommen. Die Einheimischen, die als erstes geholfen haben, fühlen sich mittlerweile allein gelassen. Panos, Besitzer eines lokalen Lebensmittelladens, sagt: "Die EU und die griechische Regierung haben die Insel in ein Warenhaus für verlorene Seelen verwandelt."
Aus diesem Grund entstehen auf Lesbos aktuell immer mehr Projekte, die sowohl Flüchtlingen und Einheimischen zugute kommen sollen. Die kleine Insel im Mittelmeer hat bei der Flüchtlingshilfe viel mehr geleistet, als sie eigentlich konnte. Die neuen Projekte sollen Lesbos jetzt wieder mit Leben füllen. "Hunderte Freiwillige aus Europa und Nordamerika kamen hierher, aber niemand hörte auf die Einheimischen und darauf, was sie für nötig hielten", sagt Adil Izemrane, Mitgründer von "Movement on the Ground" (MOTG) - "Bewegung vor Ort". Die Organisation ist verantwortlich für viele dieser neuen Projekte. Als Izemrane den Vorsitzenden der Dorfgemeinde von Moria fragte, wie man seinen Bürgern helfen könne, sei der in Tränen ausgebrochen. Niemand habe ihm zuvor diese Frage gestellt, erwiderte er.
Vertrauen aufbauen
Eins der erfolgreichsten Projekte bisher war ein Fußballturnier, an dem Kinder aus dem Camp und aus dem Dorf teilgenommen haben. Kulturelle Unterschiede und die Angst vor Kriminalität und Gewalt machen es nicht einfach, Vertrauen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen aufzubauen. Das Fußballturnier sollte zunächst die Kinder zusammen bringen - und anschließend ihre Eltern.
"Kinder haben keine Vorurteile, sie freunden sich mit jedem an", sagt Tanja Matijevic, eine Umweltforscherin, die jetzt als Fußballtrainerin arbeitet. "Moria ist kein wohlhabender Ort. Die meisten Menschen hier versuchen nur, von einem Tag auf den anderen zu überleben. Wenn die Ziege einer Familie gestohlen wird, weil die Campbewohner verzweifelt sind, macht das schon einiges aus." Viele Eltern hätten der Organisation dafür gedankt, einen Sportverein gegründet zu haben: "Normalerweise könnten sie sich es nicht leisten, ihre Kinder zu Sportvereinen zu schicken."
Spyros Lalos zehnjähriger Sohn nimmt auch an den Fußballturnieren teil. Er sagt: "Ich denke eine Menge Leute waren zunächst skeptisch, sowohl die Eltern als auch die Kinder. Aber meinem Sohn macht es Spaß und er hat neue Freunde gefunden. Jedes mal, wenn sie zusammen spielen, wird es ein wenig einfacher und die Menschen werden entspannter."
Integration ist möglich
Der 25-jährige Adonis Zeivekis wohnt in Thermi, einem Dorf einige Kilometer nördlich von Moria. Auch er möchte den Kontakt zu den Flüchtlingen verbessern: "Ich komme von hier und bin hier aufgewachsen, ich verstehe daher beide Seiten des Problems", erklärt er. "Ich wollte mich irgendwie einbringen und helfen."
Eine der Lösungen, an den Zeivekis zusammen mit MOTG arbeitet, sind digitale Lernlabors - eines im Camp von Moria und das andere in Mytilini, dem Hauptort der Insel. Dort sollen griechische und geflüchtete Kinder gemeinsam IT-Kenntnisse erlernen. Die zwei Campbewohner Thierry Harbonimana und Kwizera Ahmed Aimable, beide aus Burundi, sind gemeinsam mit ihm Lehrer im Lernlabor: "Wir werden zunächst Flüchtlinge als Lehrer in den griechischen Klassen haben und dann eventuell die beiden Gruppen mischen", erklärt Zeivekis.
Mehr kleine informelle Kontakte zwischen Flüchtlingen und Einheimischen zu schaffen, sei der beste Weg, um die Gruppen zusammen zu bringen, meint Harbonimana aus Burundi: "Alles, was uns dabei hilft, uns aneinander zu gewöhnen, ist gut", erklärt er. "Letzte Woche haben wir gemeinsam ein religiöses Fest gefeiert - es war zwar klein, aber es hat jedem gefallen." Zeivekis fügt hinzu: "Gestern hatten wir ein Musikevent mit Flüchtlingen, das offen für alle war." Er denkt nicht, dass die Einwohner mehrheitlich gegen Flüchtlinge sind: "Sie sind nur wütend, weil wir nicht genug Einrichtungen und Mittel für sie haben."
Allerdings sagt Harbonimana, könne es für Flüchtlinge schwierig sein, an solchen Projekten teilzunehmen. Oft seien die Campbewohner vielmehr darauf konzentriert, den Tag zu überstehen: "Manche machen sich einfach große Sorgen darüber, was als nächstes passieren wird, ob sie ihre Papiere bekommen zum Beispiel. Sie können über nichts anderes nachdenken."
In einem anderen Projekt betreiben Flüchtlinge einen Food Truck und kochen für die Einheimischen - mit Zutaten von örtlichen Bauern. Panos, der dabei hilft, die Zutaten anzuliefern, sieht die große albanische Gemeinschaft auf Lesbos als Beweis dafür, dass Integration auf der Insel möglich ist: "Es gibt keinen Grund, warum sie hier nicht bleiben können, einen Job finden oder eine Familie haben können."
Ungewisse Zukunft
Die Menschen vor Ort entwickeln Lösungen, die allen helfen. Dennoch sind sie wütend. Es fehlt nämlich immer noch eine übergeordnete Strategie der Behörden, die letztendlich verantwortlich sind. "Am Anfang war jeder in einer Art Krisenmodus. Aber jetzt sind es bereits drei Jahre, immer noch kommen neue Flüchtlinge an. Und immer noch gibt es keinen langfristigen Plan. Das wird vermutlich noch für einige Jahre so bleiben", sagt Izemrane. "Die Menschen hier wissen nicht, was sie hier machen sollen und wie es weiter geht. Das frustriert sie sehr."
Die griechische Regierung ist für das Camp in Moria verantwortlich. Im Moment sei kein Geld da, um die Bedingungen für die Flüchtlinge zu verbessern, heißt es. Währenddessen können Einheimische und Flüchtlinge auf der Insel nur weiter warten - ohne zu wissen, was die Zukunft für sie bringen wird.