Keine Flüchtlinge an der Grenze
6. März 2014Nach Russland fahren kann Anton schnell. Mit seinem Auto braucht er nur eine halbe Stunde bis zur russischen Grenze. Der Mann aus dem ostukrainischen Charkiw fährt oft geschäftlich nach Belgorod. Die russische Provinzstadt liegt rund 80 Kilometer von der zweitgrößten Stadt der Ukraine entfernt. Ein Visum für Russland braucht der Ukrainer nicht. An der Grenze muss er nur seinen Pass vorzeigen.
"Meine Frau und ich haben ein Konto bei einer russischen Bank", sagt der 40-Jährige, der als selbstständiger IT-Fachmann arbeitet. Und er verrät noch einen Grund für seine Russland-Reisen: günstiger Sprit. Ein Liter Super-Benzin kostet in Belgorod umgerechnet 60 Cent, in Charkiw dagegen fast einen Euro.
Russische und ukrainische Fahnen am Straßenrand
Seit Russland die ukrainische Halbinsel Krim faktisch belagert hat, fährt Anton nicht mehr gerne nach Russland. Nur wenn es nötig ist, so wie an diesem Tag. Er hat sich entschieden, sein Konto in Russland bald aufzulösen. "Die Russen sind durchgedreht", sagt er und bittet, seinen vollen Namen nicht zu nennen. Auch fotografiert werden möchte er nicht. Moskau habe Kiew den Krieg erklärt und versuche, die Ukraine mit Gewalt in seiner Machtsphäre zu halten.
Es ist ein nebliger Märztag, die Temperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt. Die hügelige Straße zur russischen Grenze führt durch einige Dörfer. Neben Cafés am Straßenrand wehen oft sowohl russische als auch ukrainische Fahnen. "Das war schon immer so - als Willkommensgeste", lacht Anton. "Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Menschen hier Teil Russlands sein wollen." Er glaubt nicht, dass die Russen wie auf der Krim auch in Charkiw einmarschieren werden. Doch ganz schließt er es nicht aus. Denn im Osten der Ukraine würden viele ethnische Russen leben.
Flüchtlinge Fehlanzeige
Für ukrainische Verhältnisse ist die Straße nach Russland in einem nahezu perfekten Zustand. Schlaglöcher im Asphalt gibt es kaum. Nach rund einer halben Stunde ist das Ziel erreicht: der Grenzübergang "Schurawljowka". Für die Bewohner der Region gibt es hier eine besonders schnelle Grenzabfertigung. Ein halbes Dutzend Autos bildet eine kleine Schlange. Sie werden schnell durchgelassen.
Von den zehntausenden Flüchtlingen, über die das russische Fernsehen berichtete, fehlt jede Spur. Die Straße ist fast leer, nur selten fährt ein Auto vorbei. Der ukrainische Kommandant des Grenzübergangs, ein Major Ende 20, kann darüber nur lächeln: "Nein, es gibt hier keine Flüchtlingsströme." Alles sei wie immer, es seien auch keine russischen Militärs in Sicht. Noch vor wenigen Tagen hatte Russland unweit der ukrainischen Grenze ein großes Manöver abgehalten. "Belgorod war voller Militärs", erzählt Anton.
Grenzbeamte tragen Kalaschnikows
Auf der ukrainischen Seite der Grenze sieht man keine Panzer oder Militärfahrzeuge. "Man hat uns personell verstärkt, es gibt es jetzt doppelt so viele Grenzbeamte hier", sagt der Major. Das sei jedoch schon seit den Olympischen Spielen im russischen Sotschi so und habe mit der aktuellen Lage auf der Krim nichts zu tun. Anton weist darauf hin, dass die ukrainischen Grenzbeamten Kalaschnikows tragen. "Das war früher anders", sagt er.
Anton fährt weiter - zum nächst größeren Grenzübergang "Hoptiwka", der nur einige Kilometer weit entfernt liegt. Doch auch hier gibt es keine Flüchtlinge. Es ist so still auf der Straße, dass man sich fragt, ob sie wirklich eine der Hauptverkehrsadern zwischen Russland und der Ukraine ist. Man sieht kaum Menschen, nur Hunde laufen über die mehrspurige Trasse hin und her.
Russische Propaganda
An einer Bushaltestelle steht ein junges Paar, beide Mitte 20. Sie sind Russen aus Kursk und haben gerade die Grenze überquert. Jetzt warten sie auf einen Linienbus nach Charkiw. "Nein, es wird keinen Krieg zwischen Russland und der Ukraine geben", sagt die junge Frau. Auf der Krim sind die Russen aus ihrer Sicht keine Besatzer, sondern "Helfer der russischen Bevölkerung".
Das, was die Russin über die politischen Ereignisse in Kiew denkt, lässt den Ukrainer Anton, der selbst auf dem Maidan war, staunen. "Die Menschen in Kiew haben nicht einfach so, sondern für Geld demonstriert", sagt sie. Außerdem habe man den Demonstranten "Drogen ins Essen gemischt", damit sie Gewalt gegen die Polizei anwenden, betont die junge Frau mit einer freundlichen Stimme und einem milden Lächeln. "Unglaublich, wie das russische Fernsehen mit Propaganda den Menschen die Gehirne gewaschen hat", sagt dazu Anton.
Das Café "Krim"
Beim Wort "Krieg" schütteln die ukrainischen Zollbeamten in blauen Uniformen in "Hoptiwka" die Köpfe. Sie beenden gerade ihre Schicht und wollen nach Charkiw fahren. "Es wäre Schwachsinn, hier einen Krieg zu führen", schimpft ein kräftiger Mann. "Auf beiden Seiten der Grenze leben Menschen, die miteinander verwandt sind. Wie sollen sie aufeinander schießen?", fragt er.
Das fragen sich bestimmt auch die ukrainischen Grenzsoldaten, die gerade in einer kleinen Kantine am Grenzübergang frühstücken. Neben der Kantine steht noch ein ehemaliges Café. Es hieß "Krim", so wie die ukrainische Halbinsel, auf die gerade die ganze Welt schaut. "Die Krim gibt es nicht mehr, sie wurde aufgegeben", sagt eine Frau. Doch sie meint das Café. Die Soldaten schmunzeln und essen weiter.