Flüchtlingshilfe in Remscheid
24. September 2015Der Tag geht ruhig an in der ehemaligen Pestalozzi-Förderschule in Remscheid-Lennep. Einige Flüchtlinge spazieren durch die Flure des Gebäudes, andere sitzen auf dem Schulhof und telefonieren, wieder andere rauchen, unterhalten sich. Die Unterkunft, so scheint es, hat zu einer gewissen Routine gefunden - einer Routine, die alles andere als selbstverständlich ist.
"Mitte Juli mussten wir innerhalb von 24 Stunden eine Unterkunft für 150 Flüchtlinge organisieren", berichtet Jens Möller von der Stadtverwaltung. Eigentlich ist er für die Haushaltskonsolidierung der mit rund 705 Millionen Euro verschuldeten Kommune zuständig. Aber weil es in Sachen Flüchtlingshilfe derzeit an allen Ecken und Enden drückt, hatte man ihn gebeten, sich auch um die Organisation der Erstunterkünfte zu kümmern - zusätzlich zu seinem eigentlichen Job. Möller sagte zu - wie viele seiner anderen Kollegen auch. Sie alle leisten derzeit doppelte Arbeit. Parallel zu ihren eigentlichen Aufgaben erledigen sie alles Notwendige, um den Flüchtlingen eine Unterkunft bieten zu können.
Allein im Rahmen der Erstaufnahme sind momentan 450 Menschen untergebracht, die meisten aus Syrien, dem Irak, Eritrea und Afghanistan. Derzeit bereitet die Stadt sich darauf vor, Platz für 220 weitere Neuankömmlinge zu schaffen. Hinzu kommen rund tausend weitere Personen, die die Stadt im Rahmen des Königsteiner Schlüssels, des bundesweiten Verteilungsmechanismus, aufgenommen hat.
Ungewisse Zukunft
Vom Druck hinter den Kulissen bekommen die Flüchtlinge wenig mit. Sie sind mit sich selbst beschäftigt. Und damit, zu warten. Denn die Pestalozzischule ist eine Erstunterkunft. Irgendwann - wann genau, weiß niemand - werden Beamte der Bezirksregierung kommen und die Bewohner registrieren und ihre Identität feststellen oder es zumindest versuchen. Zweifelsfrei kann die Stadt Remscheid die Identität der Flüchtlinge nicht ermitteln. Sie und die sie unterstützenden Johanniter sind auf die Angaben der Bewohner angewiesen. Einige haben Papiere. Andere nicht.
Allen Flüchtlingen gemeinsam ist aber eine ungewisse Zukunft. Erst wenn sie registriert sind, geht es für sie weiter, an derzeit noch unbekannte Zielorte. Erst dort werden sie eine dauerhafte Bleibe finden. Die Ungewissheit geht an den Flüchtlingen nicht spurlos vorbei. Am Vormittag gegen elf Uhr kommt ein Krankenwagen. Er bringt einen Flüchtling zurück, einen jungen Mann Mitte zwanzig. Am Vorabend hatte er seine Sorgen im Alkohol ertränkt. Einen Blutspiegel von zwei Promille hat man im Krankenhaus gemessen. Dort hatte man auch seine Wunden versorgt. Denn der junge Mann hatte mit einem Plastikmesser auf sich eingestochen.
"Das ist eine Art, mit dem Kummer umzugehen", erläutert Daniela Krein vom gemeinnützigen Verein "Begegnen, Annehmen, Helfen" (BAF e.V.). Sie leitet das Betreuungsteam der Unterkunft. "Wir sehen hier, dass die Menschen mit ihren Erfahrungen auf ganz unterschiedliche Weise umgehen. Einige ziehen sich zurück, andere sprechen darüber, wieder andere treiben Sport. Jeder bewältigt den Druck auf seine Art." Leicht ist das nicht. Was tut man, wie beschäftigt man sich, wenn die eigene Zukunft ungewiss ist?
Anliegen erfüllen, mit Ausnahmen
Remscheid versucht zu helfen. Dreimal in der Woche bietet die Stadt einen Deutschkurs an, möglich ist das nur dank ehrenamtlicher Helfer. Ein Raum ist für ärztliche Untersuchungen reserviert, aber auch für Einzelgespräche. Dort versucht Daniela Krein, den Flüchtlingen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Jenem Afrikaner etwa, der seit einiger Zeit in der Unterkunft lebt - während seine mit ihm geflohene Familie nach Krefeld gebracht wurde. Eine eigentlich überflüssige Trennung. Aber angesichts des hohen Drucks machen die Behörden Fehler. Krein hofft, das Problem unbürokratisch lösen zu können.
Mitten im Gespräch klingelt das Mobiltelefon. Krein tritt ein paar Schritte zur Seite. Zurück kommt sie mit einer erfreulichen Nachricht. Vor einigen Wochen, berichtet sie, lebte ein junger Iraker in der Unterkunft. Der junge Mann ist Christ, das kam in der gewaltgeprägten Atmosphäre in der Heimat bei einigen islamistischen Extremisten nicht gut an. Sie warfen den jungen Mann aus einem mehrstöckigen Gebäude. Schwer verletzt trat er die Flucht nach Europa an. Sein Zustand verschlimmerte sich. Nun will ihn eine Remscheider Klinik kostenlos behandeln.
Andere Wünsche dagegen kann und will Krein nicht erfüllen. Etwa den orientalischer Christen, besser behandelt zu werden als Muslime - sie seien nun doch in einem christlichen Land. Krein lehnt ab, und die Begründung gerät zu einer ersten Einführung in Staatsbürgerkunde. Man sei ein säkulares Land und das behandle alle Menschen gleich, erklärt sie dann. Und lobt umgehend die muslimischen Hilfsorganisationen der Stadt: Auch diese sammelten für die Flüchtlinge - und bestünden darauf, dass alle Personen, ungeachtet ihres Glaubens, von den Spenden profitierten.
Die Kunst der Improvisation
Welche Spenden helfen wirklich? Man könne nicht immer alles brauchen, sagt Sascha Hilverkus. Eigentlich ist er verantwortlich für das Remscheider Stadtmarketing. Nebenbei aber koordiniert er derzeit die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer. Vor kurzem hat er auf Facebook eine Seite eingerichtet, die die Bürger über Möglichkeiten der Hilfe informiert. Auch für die Beschaffung und Verteilung wichtiger Hilfsgüter ist er zuständig. Soeben hat die Stadt eine große Lagerhalle angemietet. Rund tausend Quadratmeter misst sie - gerade genug für die erwarteten Hilfsgüter. 150 Waschmaschinen hat die Stadt bestellt, dazu 700 Rollmatratzen und 500 Betten. Man habe Glück, sagt Hilverkus: Die Bestellungen würden bald eintreffen. Selbstverständlich sei das nicht, Betten seien derzeit in ganz Deutschland Mangelware.
Remscheid im Stress, Remscheid in Aktion. Die Stadt meistert die Herausforderungen. Gerade so und nur dank der ehrenamtlichen Helfer. Unverzichtbar sei auch die Hilfe der Freiwilligen- und der Berufsfeuerwehren, sagt Barbara Reul-Nocke, Rechts- und Ordnungsdezernentin der Stadt. Sie habe auch schon Ideen für die langfristige Organisation der Flüchtlingshilfe. Aber darum gehe es derzeit nicht, sagt sie. "Momentan kämpfen wir uns durch von Tag zu Tag."