Flüchtlingsstrom im Libanon
5. November 2012Der siebenjährige Ahmed kommt jeden Nachmittag in das Sozialzentrum der Amel Foundation in Harat Hreik, einem Stadtteil im Süden Beiruts. Dort lernt er Arabisch, Mathematik und Englisch. Die Amel Foundation ist eine libanesische Nichtregierungsorganisation, die landesweit Gesundheits- und Fortbildungszentren unterhält. Dort bietet sie auch Hilfe für Flüchtlinge aus Syrien an. Der schüchterne Junge stammt aus Amuda, einer Stadt im Osten Syriens. Vor einigen Monaten musste er mit seiner Familie das Land verlassen. Nun lebt er in der libanesischen Hauptstadt.
Tagsüber geht Ahmad in eine staatliche libanesische Schule. Sein Niveau in den meisten Fächern ist niedriger als das seiner libanesischen Altersgenossen. Auch Fremdsprachen sind für ihn neu. Vielen anderen syrischen Schülern geht es ähnlich. Ungefähr 30 syrische Kinder im Alter von vier bis 12 Jahren werden im Zentrum betreut. Finanziert wird dieser Unterricht vom UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen). Iman Al-Khatib ist Sozialarbeiterin bei der Amel Foundation. Sie erzählt, dass die Resonanz am Anfang schwach gewesen sei: "Aber jetzt kommen immer mehr Kinder. Sie kommen aus Beirut und Umgebung."
Angst vor der Registrierung
Die Integration syrischer Kinder in das libanesische Schulsystem ist nur eine Herausforderung unter vielen, die der Zedernstaat bewältigen muss. Seit Juni hat sich die Zahl der syrischen Flüchtlinge im Libanon verdreifacht. Die meisten von ihnen halten sich im Norden und im Osten des Landes auf. Aber immer mehr kommen auch nach Beirut und in den Süden. Anfang November hat das UNHCR die neuste Statistik bekannt gegeben. Über 77.000 haben sich beim Flüchtlingshilfswerk registrieren lassen. Hinzu kommen über 30.000, die auf einen Termin zur Registrierung warten. Registrierte Flüchtlinge bekommen Hilfe bei der Gesundheitsversorgung, bei der Beschaffung von Lebensmitteln oder Zuschüsse für die Miete. Aber die wirkliche Zahl der Menschen, die vor der Gewalt in Syrien ins kleine Nachbarland geflohen sind, liegt im Dunkeln. Viele haben Angst ihre Namen bei der Anmeldung preiszugeben. Andere wissen nicht, dass es das UNHCR gibt.
Auch Umm Mundhir und ihre Familie tauchen in keiner Statistik auf. Die Mutter von sieben Kindern floh vor zwei Monaten aus der südsyrischen Stadt Deraa und zog zu ihrem Mann, der seit vielen Jahren im Libanon arbeitet. Die 9-köpfige Familie lebt in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Beiruter Stadtteil Sabra. Das Viertel im Südwesten der Stadt gehört zu den am dichtesten besiedelten und ärmsten Gegenden der Hauptstadt. Die Mieten dort sind billiger als in anderen Stadtteilen. Umm Mundhir, eine etwas rundliche Frau Mitte dreißig, hat von dem UNHCR hat noch nie gehört. Keines ihrer Kinder besucht in Beirut eine Schule. Sorgen macht sie sich vor allem um die Gesundheitsversorgung ihrer Kinder. Einen Arzt kann sie sich nicht leisten. Um Mundhir ist seit ihrer Ankunft im Libanon nie aus Sabra herausgekommen.
Geld für Kaiserschnitt sammeln
Nabila, eine palästinensische Sozialarbeiterin in Sabra, die ihren vollen Namen nicht nennen will, schätzt die Zahl der syrischen Familien, die in ihrem Viertel Zuflucht gefunden haben auf 220: "Jeden Tag entdecken wir, dass es mehr geworden sind, manchmal 10, 20 Familien pro Tag." Manchmal bekommt Nabila Anrufe von neu angekommenen Familien, die Matratzen brauchen oder von verzweifelten Frauen, die Hilfe suchen. Neulich musste bei einer syrischen Frau ein Kaiserschnitt gemacht werden, berichtet die Sozialarbeiterin. Junge Syrer sammelten die 1000 Dollar für den Eingriff. "Sollen doch Vertreter internationaler Organisationen hierher kommen und schauen wie es den Leuten geht", sagt Nabila empört.
In einem im September veröffentlichten Bericht stellte das UN-Flüchtlingshilfswerk große Probleme bei der Unterbringung der Flüchtlinge im Libanon fest. Private Unterkünfte, leerstehende Schulen für Sammelunterkünfte und günstiger Wohnraum seien ausgeschöpft. Es schlägt vor, leerstehende Gebäude anzumieten und die Mietzuschüsse für private Unterkünfte zu erhöhen. Dazu sei aber eine zusätzliche Finanzierung notwendig.
Rohbau als Notunterkunft
Auch Kamel Mohanna, Direktor der Amel Foundation, fordert mehr Anstrengungen. Was libanesische und internationale Organisationen bis jetzt geleistet hätten, sei zwar wichtig, aber nicht genug: "Der Winter steht vor der Tür und die Lebensbedingungen der syrischen Flüchtlinge sind schwierig." Im kleinen Städtchen Arsal im Osten des Libanon erzählt Mohanna, habe er 64 Personen entdeckt, die in einem Moscheerohbau untergekommen seien: "Es gab dort keine Sanitäreinrichtungen. Zusammen mit einer österreichischen Organisation haben wir das Nötigste bereit gestellt. " Auch in vielen privaten Unterkünften würden viel zu viele Menschen wohnen: "In einem Zimmer leben nicht etwa drei Personen, sondern 20 oder 30."
Bis Jahresende erwartet das UNHCR einen Zuzug von weiteren 20.000 syrischen Flüchtlingen in den Libanon.