Der alte und neue Bundespräsident
14. Februar 2022Eine Ahnung von Frühling an der Spree. Blauer Himmel und die Februar-Sonne wärmt schon ein wenig. Kaiserwetter, hätte man ganz früher in Berlin gesagt. Und nun sitzt die Bundesversammlung zusammen, das größte Gremium, das die deutsche Demokratie hat. Und sie wählt Deutschlands Staatsoberhaupt, den Bundespräsidenten.
Erwartungsgemäß wird Frank-Walter Steinmeier im ersten Wahlgang für eine zweite fünfjährige Amtszeit gewählt. Mit 1045 von 1425 Stimmen. Auf drei Mitbewerber kleinerer Parteien entfallen 140, 96 und 58 Stimmen. Damit geht erstmals überhaupt ein Staatsoberhaupt, das aus dem Lager der Sozialdemokratie kommt, in eine zweite Amtszeit. "Überparteilich werde ich sein, ja", sagt Steinmeier nach der Wahl. "Aber ich bin nicht neutral, wenn es um die Sache der Demokratie geht."
Überschattet von Corona
Aber bis es so weit ist, bis zu dieser Rede, braucht es eine in dieser Form einmalige Bundesversammlung. Die grassierende Corona-Pandemie überschattet die Wahl. Statt, wie üblich bei Bundesversammlungen, eng gedrängt im Reichstag, treffen sich die über 1400 Wahlleute im Paul-Löbe-Haus, eines der nach einem großen Sozialdemokraten benannten Bundestagsgebäude neben dem Reichstag. Hunderte Stühle warten in der weiten Halle, viele hundert weitere in 16 einzelnen Sälen des Gebäudes.
Wer an der Versammlung teilnimmt, musste einen negativen Corona-Test vorweisen. Daran scheiterten wohl einige, vielleicht auch einige Dutzend. Leute wie Henning Höne, der zum zweiten Mal binnen weniger Wochen positiv getestet wurde. "Das tut weh", teilte der nordrhein-westfälische FDP-Landtagsabgeordnete mit. Er habe sich wirklich sehr auf die Wahl gefreut. Schlussendlich liegt die Zahl der abgegebenen Stimmen um 35 unter der möglichen Zahl von 1472 Wahlleuten.
Wie ein "Familientreffen"
Den langen Saal im Paul-Löbe-Haus füllen am späten Vormittag die Wahlleute zu einem Hochamt der Demokratie. Aber es hat auch etwas von einem Klassentreffen. Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder twittert von einem "großen Familientreffen der Union". Es sei auch irgendwie "ein kleiner Kindergeburtstag gerade", sagt der Pianist Igor Levit, den die Grünen als Wahlmann nominiert hatten.
Denn zu den insgesamt 736 Bundestagsabgeordneten zählen noch einmal genauso viele Vertreterinnen und Vertreter aus den Bundesländern. Das sind Kräfte aus der Politik, aber auch Prominenz und so genannte "normale" Bürger.
Herrenfußball-Bundestrainer Hansi Flick und die katholische Ordensfrau Maria Hanna Löhlein. Schlagerstar Roland Kaiser und die Hamburger Friseurin Wiebke Exner, der Virologe Christian Drosten und der Intensivpfleger Ricardo Lange. Als ältestes Mitglied der Versammlung reiste Karla Spagerer aus dem Saarland an. Die 92-Jährige hatte als Zeitzeugin die Schrecken des Nationalsozialismus miterlebt.
Merkel ist wieder da
Und Angela Merkel ist wieder da. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas begrüßt "eine verdiente, vormalige Bundeskanzlerin." Auch Merkel ist nun als Wahlfrau dabei und spricht mit CDU-Chef Friedrich Merz oder der grünen Kulturstaatsministerin Claudia Roth, auch mit ihrem Nachfolger Olaf Scholz und eigentlich mit jedem, der sie anspricht. Ganz gewiss ist Merkel vor Sitzungsbeginn und während der Auszählung der Stimmen die Selfie-Königin des Tages - bis Frank-Walter Steinmeier sie ablöst.
Bis dahin dauert es zweieinhalb Stunden. Allein die Verlesung der Namen und die Stimmabgabe dauert weit über eine Stunde. Von A bis Z, von Sanae Abdi, einst geboren in Marokko, heute aus Köln, bis Katrin Zschau aus Rostock, beide übrigens Bundestagsabgeordnete der SPD.
Dann hat Steinmeier die Wahl im ersten Wahlgang für sich entschieden und hält eine große Rede. Wenn ein Bewerber, der noch nicht im Amt ist, gewählt wird, kommt da meist eine Einlassung von nur wenigen Minuten - denn die Vereidigung und die erste offizielle Rede stehen in einem solchen Fall erst einige Wochen später im Parlament an.
Appell an Putin: "Lösen Sie die Schlinge"
Steinmeier fängt gar nicht mit einem Dank an seine Ehefrau Elke Büdenbender oder mit eigener Überwältigung an. Er hält die bislang deutlichste deutsche Rede zur militärischen Drohkulisse Moskaus gegen die Ukraine. "Wir sind mitten in der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Europa", sagt der frisch gewählte Bundespräsident. "Und dafür trägt Russland die Verantwortung."
Er wendet sich sogar direkt an das russische Staatsoberhaupt: "Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine!" Steinmeier spricht in seiner gut 22 Minuten dauernden Rede auch die für viele Bundesbürger schwierige Lage in der schon lange quälenden Corona-Pandemie an, nennt die Herausforderungen für jeden einzelnen angesichts des Klimawandels.
Er wolle mit allen im Gespräch bleiben, das Gespräch suchen, kündigt Steinmeier an. Am 18. März, wenn formal seine erste Amtszeit zu Ende ist und die neue anfängt, wolle er zum Bürgergespräch in Ostdeutschland unterwegs sein.
Nun ist Steinmeier der fünfte Bundespräsident, der für eine zweite Amtszeit gewählt wurde. Und der erste Bundespräsident aus Reihen der Sozialdemokratie, der es auf zehn Jahre bringen kann. Er kann das Amt nun weiter prägen.
Es ist bereits die zweite große Rede dieses Tages, die zweite präsidentielle. Auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas spricht zum Auftakt der Bundesversammlung überraschend lang. Auch sie äußerte sich besorgt in Sachen Frieden in Europa. "Die Lage in der Ukraine nimmt eine Entwicklung, die wir uns alle noch vor Kurzem nicht hätten vorstellen können", sagt Bas.
Aber vor allem mahnt sie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. In der Gesellschaft scheine "viel Verbindendes verloren zu gehen."
Nach drei Stunden klingt die Bundesversammlung mit der instrumental vorgetragenen Nationalhymne aus. Schon steht Steinmeier mitten in der Menge all derer, die ihm gratulieren oder irgendwie ein Foto mit ihm wollen. Ein Bild, als würde es Corona gerade nicht geben.