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Dschihadisten, Utopisten, Nihilisten

Kersten Knipp10. August 2016

Nach den jüngsten Anschlägen findet in den französischen Medien eine neuen Debatte über Motive und Ziele des Dschihadismus statt. Neben den sozialen Faktoren rücken mehr und mehr die kulturellen in den Vordergrund.

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Soldaten nach dem Anschlag in Nizza (Foto: Reuters)
Bild: Reuters/E. Gaillard

"Wir müssen aufhören, unsere Frauen als schwarze Gespenster zu verhüllen, die den Kindern auf der Straße Angst machen. Wir müssen aufhören, Schwimmbäder nur für Frauen zu fordern. Ganz grundsätzlich müssen wir auf alle provokanten Zeichen verzichten, die unsere Zugehörigkeit zum Islam anzeigen." In deutlichen Worten forderte der Schriftsteller Taher Ben Jelloun in der französischen Tageszeitung "Le Monde" die Muslime dazu auf, sich etwas diskreter zu ihrer Religion zu bekennen. Anlass dazu hätten sie, schrieb der 1943 im marokkanischen Fes geborene, seit langem in Frankreich lebende Erfolgsautor. Im Begriff "Islam" stecke zwar das Wort "Frieden". Aber: "Dieser Aspekt ist ausradiert worden. Derzeit präsentiert sich der Islam als Gewalt und Brutalität."

Wie umgehen mit Islam und Islamismus? Wie verhindern, dass Dschihadisten weiter ihre Anschläge begehen, in einem Staat, der ohnmächtig scheint, sie zu verhindern? Seit den Anschlägen von Nizza und Saint-Etienne du Rouvray wird in den französischen Medien das Phänomen des Dschihadismus erneut und mit neuer Vehemenz diskutiert.

Die religiösen Symbole spielen in dieser Diskussion eine Rolle. Auf sie bezieht sich auch der Islamwissenschaftler und Politologe Abderrahim Hafidi, der, ähnlich wie Jelloun, den Muslimen empfiehlt, in der Öffentlichkeit einen Schritt zurückzutreten: So sollten sie etwa aufhören, auf der Straße zu beten. Das würde den Nicht-Muslimen signalisieren, dass die Muslime in aufgewühlten Zeiten zum Kompromiss fähig seien. Auch er empfiehlt in "Le Monde", auf gewisse Kleidungsstücke, allen voran den Ganzkörperschleier, zu verzichten.

Schweigeminute für die Opfer des Terrors von Nizza (Foto: DW/B. Riegert)
Schweigeminute für die Opfer des Terrors von NizzaBild: DW/B. Riegert

Eine fatalistische Regierung?

Auf ganz anderer Ebene verorten der Philosoph Geoffroy de Lagasniere und der Schriftsteller Edouard Louis das Problem. In ihrem in der Zeitung "Libération" veröffentlichten Offenen Brief an den französischen Premierminister Manuel Valls werfen sie diesem eine "fatalistische" Haltung vor. Valls habe erklärt, man müsse mit weiteren Attentaten rechnen. Das wollen die beiden Autoren nicht hinnehmen: "Sie sind diesen fatalistischen Diskurs gewohnt. Und nun wollen Sie uns, die Bevölkerung, ebenfalls daran gewöhnen."

Die Regierung habe zwar erklärt, den "Krieg" gegen den Dschihadismus "mit allen Mitteln" zu führen. Doch Lagasniere und Louis zweifeln daran, dass tatsächlich alle Mittel zum Einsatz kämen. In der Berichterstattung über Attentäter, argumentieren sie, tauchten regelmäßig bestimmte Vokabeln auf: So etwa "Gefängnis", "Armut", "Rassismus", "Arbeitslosigkeit", "Ausschluss". Das, folgern die beiden Autoren, lege vor allem eines nahe: Der Dschihadismus habe vor allem soziale Gründe. "Gegen den Terrorismus zu kämpfen", schreiben sie, "müsste darum vor allem heißen, sich gegen alle jene Faktoren zu wenden, die diese Misere verursachen – die also das Ressentiment, die Wut und die gewalttätigen Affekte überhaupt erst verursachen."

Die Kosten der Moderne

Der Islamwissenschaftler und Dschihadismusforscher Gilles Keppel setzt andere Akzente. Er sei immer wieder erstaunt, in wie vielen Biographien junger, nach Syrien reisender Franzosen die Vaterfigur fehle, erklärt er in einem Interview mit der Zeitung "Le Figaro". Der Umstand deute auf tiefgreifende Desorientierung hin. Ihr müssten viele Kräfte entgegenarbeiten. "Wenn es uns nicht gelingt, den Zusammenhang der Gesellschaft zu stärken und neben den Schulen auch die Familien zu mobilisieren, dann wird auch der Staat ohnmächtig bleiben."

Gilles Kepel (Foto: AFP/Getty Images)
"Die ganze Gesellschaft ist gefordert": der Politikwissenschaftler Gilles KepelBild: Joel Saget/AFP/Getty Images

Alle gesellschaftlichen Kräfte sind aufgerufen, so sieht es auch der Islamwissenschaftler Olivier Roy. Es sei kaum anders denkbar in einer Zeit, die von gewaltigen kulturellen Umbrüchen geprägt sei, erklärt er im Interview mit der Zeitung "Le Monde". Zu diesen Umbrüchen gehöre auch der unaufhaltsame Niedergang der religiösen Praxis. Der sei weltweit zu verzeichnen - auch in der islamischen Welt. Entsprechende Diagnosen existieren tatsächlich bereits seit längerem. Die beiden Demographen Emanuel Todd und Youssef Courbage hatten sie vor Jahren in einer Aufsehen erregenden Studie nachgewiesen.

Muslimischer Anbeter vor der Saint-Etienne-du-Rouvray (Foto: picture-alliance/dpa)
Trauerfeier für die Opfer in RouvrayBild: picture-alliance/dpa/C. Petit Tesson

Seit den 1960er Jahren, argumentiert Roy, habe der Säkularismus seinen Siegeszug angetreten. Seitdem stehe das Individuum mit allen seine Rechten im Vordergrund. Das habe im Folgenden zu weiteren Entwicklungen geführt – etwa der Heirat Homosexueller, der kontrollierten Fortpflanzung oder zu Leihmüttern. All dies, so der säkulare Islamwissenschaftler, bedeute für viele Menschen den totalen Bruch mit religiösen Werten. Ein Teil der Muslime wehre sich dagegen.

Weiteren Antrieb zur Radikalisierung erhielten sie derzeit aus den Krisenregionen des Nahen Ostens. Iran und Saudi-Arabien - die Führungsstaaten der schiitischen bzw. der sunnitischen Welt - kleideten ihre geostrategischen Interessen in eine religiöse Sprache, um sie auf diese Weise zu legitimieren. Das färbe auch auf einen Teil der europäischen Muslime ab. Verunsichert durch den fortschreitenden Säkularismus, klammerten sie sich an ihre Religion - unter dem Einfluss konservativer Regime wie der in Saudi-Arabien und Iran eben oft auch an deren fundamentalistische Variante.

Muslimische Über-Ich

Hinzu komme ein weiterer Umstand, ergänzt der in dem Interview ebenfalls befragte Psychoanalytiker und Publizist Fethi Benslama. Die rasant sich entwickelnde Moderne könne dem Menschen eines nicht nehmen: die Angst vor dem Tod. Diese Angst hätten die Menschen bislang mit Hilfe der Religion zu bewältigen versucht. Wenn die Religion aber zurückgehe, käme es zu privaten, unzivilisierten Bewältigungsversuchen – etwa, indem die Menschen persönliche, oft verzerrte Formen des Glaubens zurückgriffen. Die Einsamkeit lasse den religiösen Druck wachsen - was dann zu extremen Formen führe. Als "Surmusulman" bezeichnet Benslama in seinem jüngsten Buch dieses Phänomen - im Deutschen annäherungsweise als "muslimisches Über-Ich" übersetzbar.

Fethi Benslama (Foto: Indif)
Forscher des "muslimischen Über-Ichs": der Psychoanalytiker Fethi BenslamaBild: CC by Indif

Die Anstrengungen dieses Über-Ichs führten zuletzt aber ins Nichts. Das zeige sich in dem Umstand, dass die Dschihadisten bei ihren Attentaten seit geraumer Zeit den Tod suchten. Das wiederum sei ein Hinweis, dass Ideologien und Heilsversprechen wie die der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) selbst bei ihren Anhängern nicht fruchteten. "Im Grunde glauben die Dschihadisten selbst nicht an das utopische Projekt, dass der IS ihnen vorschlägt".