Frankreich will Jungfrauentests verbieten
8. Dezember 2020"Das Zertifikat ist nicht für mich, es ist wirklich für meine Familie. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin ratlos." Das sind Äußerungen junger muslimischer Frauen, die ein Jungfräulichkeitszertifikat brauchen, um die Familienehre und den religiösen Glauben der Eltern zu schützen, so Dr. Ghada Hatem. Sie ist Gynäkologin, Hebamme und Gründerin des Maison des Femmes in Saint Denis, einem Vorort von Paris. Das Maison des Femmes ist eine Beratungsstelle für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden.
Es ist oft das gleiche Muster. "Sie rufen in den Praxen an und bitten um einen direkten telefonischen Kontakt mit dem Arzt", erzählt Gada Hatem. "Dann weiß ich sofort worum es geht und spreche mit den jungen Frauen", ergänzt sie.
Durchschnittlich drei Mal pro Monat wenden sich junge muslimische Frauen an Ghada Hatem mit der Bitte um eine Bescheinigung. Nur sehr wenige Ärzte in Frankreich führen die Untersuchung tatsächlich durch, so die Gynäkologin gegenüber der DW. In der Regel werden die Zertifikate ohne Untersuchung ausgestellt.
Erniedrigender Umgang mit Frauen
Jungfräulichkeitstests werden nach Angaben der WHO noch immerin mehr als 20 Ländern der Weltpraktiziert. Bei der Untersuchung wird das Jungfernhäutchen visuell oder mit den Fingern inspiziert. Dabei kann laut WHO mit einer Untersuchung gar nicht bewiesen werden, ob eine Frau oder ein Mädchen vaginalen Geschlechtsverkehr hatte oder nicht. Ein gerissenes Jungfernhäutchen ist kein "Beweis" für Geschlechtsverkehr. Die Untersuchung stellt eine Verletzung der Menschenrechte dar, so die WHO.
Amnesty International wird hierzu sogar noch deutlicher: "Sogenannte Jungfräulichkeitstests sind äußerst diskriminierend, verletzen die Rechte auf Würde und körperliche und geistige Unversehrtheit und verstoßen gegen völkerrechtliche Bestimmungen zum Verbot von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung", heißt es in einer online-Stellungnahmen der Menschenrechtsorganisation. Im Oktober 2018 hatten die Vereinten Nationen die Mitgliedstaaten aufgefordert, solche Tests zu verbieten.
Politische Maßnahme oder Hilfe zum Schutz von Frauen
Der Gesetzentwurf der französischen Regierung zur Bestätigung "republikanischer Prinzipien" wurde im November den Präsidenten der Nationalversammlung und des Senats übermittelt. Er wird am 9. Dezember vom Ministerrat geprüft werden. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte angekündigt, mit dem Gesetz solle der radikale Islam und des "Separatismus" bekämpft werden. Der Text wurde nach dem tödlichen Angriff auf Samuel Paty durch Bestimmungen gegen Online-Hass ergänzt. Der Geschichtslehrer Paty war ermordet worden, weil er im Unterricht die Mohammed-Karikaturen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo verwendet hatte.
Einer der fünf Schwerpunkte des Gesetzes ist die Stärkung der Frauenrechte durch den Kampf gegen Diskriminierung bei Erbschaft, Polygamie, Zwangsheirat und eben das Verbot von Jungfräulichkeitstests.
Weitere Ziele des Gesetzentwurfs sind die Bekämpfung des Online-Hasses, die Verpflichtung zur religiösen Neutralität von Angestellten im öffentlichen Dienst und die Verpflichtung jeder Vereinigung, die einen staatlichen Zuschuss beantragt, die Prinzipien und Werte der Republik zu respektieren.
Marlène Schiappa, beigeordnete Ministerin für Staatsbürgerschaft im französischen Innenministerium, betonte, das Gesetz sehe Strafen für diejenigen vor, die Jungfräulichkeitstests verlangen sowie für Ärzte, die diese Bescheinigung erstellen.
Die französische Schriftstellerin und Soziologin Kaoutar Harchi hingegen hält es für übertrieben, Jungfräulichkeitszertifikate gesetzlich zu verbieten. Sie würden ohnehin nur selten angefragt. "Es ist eine Strategie, um die muslimische Minderheit zu stigmatisieren", sagt sie. Harchi geht noch weiter und sagt: "Dieses Gesetz will Ärzte bestrafen, die Jungfräulichkeitstests durchführen. Es verstößt aber auch gegen das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat, gegen republikanische Werte und den nationalen Pakt."
Auch Ärzte und Frauenrechtlerinnen/Feministinnen stehen diesem Gesetzesentwurf kritisch gegenüber.
Ein Verbot, das das Problem nicht löst
"Die Regierung leitet Maßnahmen ohne jegliche Forschung und ohne Studien zu diesem Thema ein", sagt Celine Piques, Sprecherin von "Osez le feminisme", einer der wichtigsten feministischen Vereinigungen in Frankreich. Für sie ist das Verbot von Jungfräulichkeitszertifikaten keine Lösung.Auch Ghada Hatem sieht in diesem Verbot eine mögliche Verschlechterung der Situation der Frauen, die das Zertifikat brauchen. Sanktionen für die Ärzte würde das Problem nicht lösen, sondern nur verlagern.
Ebenso glaubt Celine Piques, "dieses Gesetz könnte sogar kontraproduktiv sein, da das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin beeinträchtigt werden kann." Mit Einführung des Gesetzes werde den betroffenen Frauen eine Möglichkeit genommen, Konflikte in der Familie zu vermeiden. Viele hätten mit dem Zertifikat die Chance sich vor Gewalt zu schützen. Dieses Gesetz werde die Frauen jedoch nicht schützen können. Letztendlich würden sie allein gelassen und hätten dann nicht mehr die Möglichkeit, sich einer außenstehenden Person wie einer Ärztin anzuvertrauen.
Aufklärung statt Bestrafung
Die jungen Frauen, die diese Tests benötigen, stammen aus muslimischen Familien. Für Ghada Hatem ändert ein Gesetz und das daraus resultierende Verbot aber nicht die Mentalität der Menschen. "Wir müssen es schaffen, dass Eltern die Förderung und Achtung der Frauenrechte verinnerlichen und das das in die Erziehung der Töchter einfließt", betont sie.
Für Celine Piques müsste die Regierung das Problem ganz anders angehen. "Wir müssen in der Lage sein, junge Frauen, die Gewalt und Drohungen durch ihre Familien ausgesetzt sind, weil sie keine Jungfrauen sind, zu beschützen und Notunterkünfte anzubieten."
Ghada Hatem wird hilfesuchenden Frauen weiterhin zur Verfügung stehen. Sollte das Gesetz in Kraft treten hat sie sich vorgenommen, der Staatsanwaltschaft alle Fälle zu melden, in denen Mädchen und junge Frauen in großer Gefahr zu sein scheinen.