Eine Frage der Ehre?
28. Dezember 2018Mariam ist eine junge Frau von 24 Jahren. Damit ist die Marokkanerin im heiratsfähigen Alter. In einiger Zeit, so die allgemeine Erwartung, wird sie erstmals mit einem Mann intim sein. Davor hat sie Angst. Der Grund: Als junges Mädchen wurde sie gezwungen, sich einem von einer Hebamme durchgeführten Jungfräulichkeitstest zu unterziehen. Seit jener Zeit hat Mariam Angst vor der Ehe. Die Untersuchung, sagt sie, sei "barbarisch" gewesen. "Sie war schmerzhaft und hat meine Würde als Mensch und als Frau verletzt."
Auf dem Land in Marokko sei eine solche Untersuchung gängige Praxis, sagt Mariam. Sehr viele junge Frauen müssten sich ihr unterziehen. Notfalls würden sie mit Gewalt zu einer der traditionellen Hebammen gebracht, die oft keine medizinische Qualifikation vorweisen könnten. Wichtig sei allein, dass die jeweiligen Familien ihr vertrauten.
So hat Mariam nicht gezögert, sich jener Bewegung anzuschließen, in der sich junge Frauen unter dem Motto "Meine Vulva gehört mir" zusammengeschlossen haben. Die Initiative will damit auf den psychologischen und sexuellen Zwang hinweisen, unter dem die jungen Frauen stehen. "Denn die schlimmste Form von Vergewaltigung ist diejenige, die junge Frauen ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung beraubt", sagt Mariam.
"Jungfräulichkeit ist eine Frage der Ehre"
Ein Vorort der Stadt Meknes am Fuße des Atlas-Gebirges. Hier lebt eine ältere Frau, von den Nachbarn mit Blick auf ihr Ansehen "die Gesegnete" genannt. Das Ansehen gründet auf ihrer Aufgabe: festzustellen, ob eine junge Frau noch den Status der Jungfräulichkeit hat oder nicht.
"Ich trage große Verantwortung", sagt "die Gesegnete" der DW. "Denn ich trage die Geheimnisse vieler Familien mit mir. Die behalte ich natürlich für mich, denn es geht um Jungfräulichkeit, also Ehre." Die Jungfräulichkeit zu erhalten, sei daher die Pflicht jeder jungen Frau. Damit sichere sie die Ehre der Familie. Ein Mädchen, das seine Jungfräulichkeit verloren habe, habe keinen Wert. Sie würde dann von jedermann ohne Respekt behandelt.
Viele Familien setzten auf den Brauch der Untersuchung, erklärt "die Gesegnete". So überprüften sie die Jungfräulichkeit ihrer Töchter und schützten sie vor verbotenen sexuellen Beziehungen. Ihre Methoden, sagt sie, seien weder primitiv noch schmerzhaft. Sie verwende vorzugsweise natürliche Materialien, die keinerlei Verletzungen hervorriefen. Um die Dichte des Hymens zu verifizieren, benutze sie etwa Eier. Oftmals behelfe sie sich auch mit der Hand.
Eine Art von Vergewaltigung
Genau diese Praxis kritisieren die Aktivistinnen von "Meine Vulva gehört mir". Sie verletze die sexuelle Freiheit und menschliche Würde der jungen Frauen. Zu den Zielen der Kampagne "Meine Vulva gehört mir" gehöre, ein entsprechendes Bewusstsein bei all jenen Frauen zu schaffen, die auf die eine oder andere Art vergewaltigt worden seien und es nicht wagten, darüber zu sprechen, sagt Sarah al-Awni, Aktivistin bei der Menschenrechtsgruppe "Marokkanische Vereinigung zum Schutz Individueller Freiheiten".
Beim Jungfräulichkeitstest würden junge Frauen vergewaltigt, da ihre Würde nicht respektiert werde. Ziel der Kampagne sei es, dass Jungfräulichkeit künftig nicht mehr als Voraussetzung einer Eheschließung gelte.
Eine Reihe von Mädchen würde dem Jungfräulichkeitstest auf entwürdigende und willkürliche Weise unterzogen, so al-Awna. Dies beeinträchtige ihr psychologisches und sexuelles Wohlbefinden. Dies gelte umso mehr, wenn dazu ungeeignete Instrumente eingesetzt würden. Oftmals arbeiteten die Frauen, die die Mädchen untersuchten, unter unhygienischen Bedingungen. Bisweilen würden sie von den Familien auch gebeten, illegale Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen.
Die Bewegung sei durchaus erfolgreich, sagt al-Awna. Immer mehr junge Frauen schlössen sich ihr an, um auf diese Weise dem Druck ihrer Familien zu entkommen. Die Mitglieder der Kampagne hingegen betrachteten Jungfräulichkeit als ein illusionäres Konzept.
Gegen Ignoranz und Rückständigkeit
Fatima Khalidi, eine junge Journalistin und Unterstützerin der Kampagne, lehnt es ab, Jungfräulichkeit und Ehre gleichzusetzen. Ehre sei ein umfassendes Wort, das nicht auf einen bestimmten Körperteil einer Frau reduziert werden sollte.
"Meine Vulva gehört mir" verleihe denen eine Stimme, die sonst keine Stimme hätten, sagt Khalidi. Der Druck, die Jungfräulichkeit zu erhalten, zwinge die Frauen in Ignoranz und Rückständigkeit. Darum gehöre dieser Druck bekämpft.
Die Kampagne drücke auch die Weigerung junger Marokkanerinnen aus, sich dem Wertegefüge vorhergehender Generationen zu unterwerfen, sagt der Menschenrechtsaktivist Abdelkarim al-Qamsh. Die Zahl derjenigen Marokkanerinnen, die Jungfräulichkeit mit Ehre gleichsetzten, sei klein geworden.
Als eine der Ursachen dieses Wertewandels sieht er die tiefgreifenden Veränderungen, die Marokko in letzter Zeit durchlaufen habe. Die moderne Gesellschaft habe andere Werte - auch in Bezug auf Jungfräulichkeit und Ehre.