Frankreichs Angst vor dem B-Day
12. März 2019Heute sind die Engländer pünktlich an der Grenze. Wie an fast jedem Tag gleitet die "Seven Sisters" um 15 Uhr die letzten Meter zu ihrem Anlegeplatz am Fährkai von Dieppe. Der heftige Sturm im Ärmelkanal hat zumindest diesen Zeitplan nicht durcheinanderbringen können.
Während die Lastwagen aus dem Bauch der großen Fähre gespuckt werden, steht Jean-Luc wie fast jeden Tag auf der gegenüberliegenden Hafenseite und beobachtet den Waren- und Personenumschlag. "Wenn es zum harten Brexit kommt, werden wir hier totales Chaos auf den Straßen erleben", prognostiziert der 66-Jährige. Die LKW, die heute schnell die Hafenanlagen verlassen können, müssten dann aufwendig kontrolliert werden.
Doch Platz dafür gibt es am Kai eigentlich nicht. Und die Straße, die vom Anleger ins Umland des Normandie-Städtchens führt, ist schmal. Der Brexit, da ist sich Jean-Luc sicher, wird in Dieppe große Probleme bereiten. Das ärgert den Rentner. Dabei hat er grundsätzlich viel Verständnis für die Eigenheiten der Briten - jahrelang hat er auf der Insel gearbeitet und hält bis heute Kontakt zu vielen Freunden dort.
Lebensader zwischen beiden Staaten
Die Bande zur Insel sind in Dieppe enger als in anderen Städten der Normandie. Auch historisch bedingt, denn die Fähre zwischen Dieppe und Newhaven ist die älteste Verbindung zwischen beiden Ländern. Sie war eine Lebensader zwischen Paris und London, lange bevor 1994 der Eisenbahntunnel unter dem Ärmelkanal die beiden Hauptstädte direkt mit dem Zug verbunden hat.
Der Brexit, so hoffen hier einige Verantwortliche, könnte Dieppe einen neuen Aufschwung bescheren, falls die großen Knotenpunkte Calais und Dünkirchen unter der Last der Kontrollen ächzen und damit Ausweichhäfen attraktiver werden. Ein höherer Takt bei den Fährverbindungen ist daher beim Betreiber der Linie, dem Departement Seine-Maritime, schon im Gespräch.
Schleppende Vorbereitungen
Auch die Hafenverantwortlichen und die Stadtspitze versichern, der Brexit sei für Dieppe gut beherrschbar. Für alle Eventualitäten sei man gerüstet. In der Praxis aber existieren die Pläne vor allem in den Köpfen. Neben der Staufrage könnte es vor allem bei der Waren- und Tierkontrolle brenzlig werden. Rund 600 Pferde kommen jedes Jahr aus Großbritannien im Hafen von Dieppe an - ihre Kontrolle und Unterbringung soll nun auf dem Gelände der Pferdebahn am Rande des Stadtzentrums erfolgen.
Waren aus Großbritannien sollen zur Überprüfung in leerstehende Obst- und Gemüse-Lagerhallen am Hafen wandern. Doch an diesen Orten kann zweieinhalb Wochen vor dem 29. März von sichtbaren Vorbereitungen keine Rede sein.
Kaum anders sieht es 200 Kilometer nördlich am großen Verkehrsknotenpunkt Calais aus. Gerade erst haben hier die Zöllner für landesweite Schlagzeilen gesorgt. Mit "verschärften Kontrollen" haben sie bewusst kilometerlange LKW-Staus produziert und so einen Vorgeschmack auf die Brexit-Folgen gegeben. Die Polizei musste einige Autobahnausfahrten zwischenzeitlich sperren.
Das Ziel des Protestes: Die Zöllner wollten auf widrige Arbeitsbedingungen aufmerksam machen. Da, wo sie in Zukunft die Einfuhr überprüfen müssten, ist derzeit lediglich die Bodenplatte eines Kontrollhäuschens zu sehen. Aber immerhin haben in Calais die Vorbereitungen bereits begonnen.
Arbeitslos nach dem Brexit?
Während die Zöllner für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, fürchten die Fischer im Hafen von Dieppe die Arbeitslosigkeit. "Bei einem harten Brexit könnte Großbritannien seine Seegebiete dichtmachen", klagt der Chef der französischen Jakobsmuschelfischer, Pascal Coquet. Die Regierung hat für diesen Fall schon diskret Überbrückungsgeld für mehrere Monate zugesagt. Doch die Fischer wollen kein Geld fürs Nichtstun im Hafen, sondern Fische fangen und Muscheln ernten.
Coquet selbst fährt nicht mehr raus aufs Meer, sondern kämpft am Schreibtisch in Dieppe für die Interessen seiner Zunft. Bei einem harten Brexit, sagt er, würde es voll in den französischen Gewässern, falls die anderen EU-Staaten ihre Schiffe aus den britischen Gewässern abziehen müssten. "Dann hätten wir doppelt so viele Boote für halb so viele Fische."
Zumal ihm in dieser prekären Lage auch eine andere Entwicklung Sorgen bereitet: Die Behörden haben drei Offshore-Windfarmen vor der französischen Küste genehmigt - ausgerechnet in den fischreichsten Gewässern. "Die Investoren sagen selbst, dass dann die Fische während der monatelangen Bauarbeiten im Umkreis von 25 Seemeilen wegbleiben."
Blockade als letzte Möglichkeit?
Als Coquet seine aktive Laufbahn beendete, kaufte der junge Loïc Marguerie das betagte Boot des erfahrenen Fischers. Heute macht sich Marguerie große Sorgen um seine Zukunft. "Wenn wir nicht mehr vor der britischen Küste fischen können, dann brechen uns 80 Prozent des Fangs weg", klagt der 30-Jährige. Seine Fische fängt er mit seinen vier Matrosen vor allem in britischen Gewässern.
Kein Wunder, dass die britischen Fischer es besonders eilig haben mit dem Brexit. "Das ist vielleicht der einzige Wirtschaftszweig da drüben, der sich über den Brexit richtig freut", glaubt Marguerie. "Je härter, desto besser. Sie würden den Ärmelkanal am liebsten teilen und ihre Hälfte dann für ausländische Boote sperren. Aber unsere Eltern und Großeltern haben dort schon gefischt. Man kann uns das doch nicht von einem auf den anderen Tag wegnehmen?!"
Noch ist es nicht so weit, aber die Angst ist bei den Fischern von Dieppe groß. Loïc Margueries "Lebensversicherung" heißt Jakobsmuschel. Mit der "Daniel Auguste" fängt er neben Fischen auch die edelste aller Meeresfrüchte. Die besten Vorkommen sind vor allem in französischen Gewässern zu finden. Die wird er auch nach einem harten Brexit ansteuern können.
Kontakt zu den britischen Fischern hat Marguerie übrigens nicht. Man sieht sich im Ärmelkanal, aber man spricht kaum miteinander. Verbandschef Coquet ist sich sicher, dass Frankreich unruhigen Zeiten entgegengeht. Je nach Ausgang des Brexits "wird sich richtig Wut entladen und die französischen Fischer werden zu verhindern wissen, dass britische Fänge weiter die Grenze passieren".