Frankreichs junge Corona-Patienten
1. September 2020So haben sich die Soldaten ihre Feier nicht vorgestellt. Das Gedenken an den verlustreichen Kampf um Bazeilles vor genau 150 Jahren findet unter erschwerten Bedingungen statt. Auf der Zuschauertribüne tragen die Staatssekretärin Geneviève Darrieussecq aus dem Verteidigungsministerium sowie Offiziere und Veteranen Mund-Nasen-Schutz und achten auf Abstand.
Der unsichtbare Feind, das Virus, bedroht auch die Elitetruppe der Marineinfanterie. Und es hat zudem die französische Angst vor einem Machtverlust wieder aufleben lassen - 150 Jahre nach dem militärischen Triumph Berlins im Deutsch-Französischen Krieg. Auch abseits der Paraden und Ehrungen in Bazeilles 2020 ist die Stärke Deutschlands wieder Thema in Frankreich.
Nicht, weil es noch Ressentiments zwischen deutschen und französischen Soldaten geben würde, sondern weil sich wieder die Frage stellt, wie groß der Abstand zum Nachbarn geworden ist. "Frankreich spielt nicht mehr in der gleichen Kategorie wie Deutschland", sagte kürzlich der renommierte Philosoph und Historiker Marcel Gauchet.
Zur Behandlung nach Deutschland
Der Wissenschaftler macht das unter anderem an der Corona-Politik fest: "Unserem Gesundheitssystem, das wir für eines der besten der Welt hielten, mangelt es an Kapazitäten und es wird schlecht verwaltet."
Belege für diese Diagnose gibt es einige. Weil Frankreich über zu wenig Intensivbetten verfügt, mussten im Frühjahr Covid-19-Patienten in europäischen Nachbarländern - auch in Deutschland - versorgt werden.
Mit mehr als 30.000 Toten verzeichnet der 66-Millionen-Einwohner-Staat heute mehr als dreimal so viele Menschen, die an oder mit dem Virus gestorben sind, wie das deutlich bevölkerungsreichere Deutschland.
Nach Gelbwesten-Protesten und der Streikbewegung gegen die Reformen von Präsident Macron haben die Probleme des Gesundheitswesens die Kluft zwischen Politik und Bevölkerung vergrößert. "Die Bevölkerung war von Beginn an kritisch, verärgert und wütend über das Krisenmanagement", analysiert die Frankreich-Forscherin Julie Hamann von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.
Zwischen Lockdown und Lockerung
Zuerst war der Mangel an Masken ein Symbol für diese Versäumnisse, danach geriet das Krisenmanagement des Präsidenten in die Kritik. Emmanuel Macron hatte die Bevölkerung mit martialischen Worten auf einen "Krieg gegen das Virus" eingeschworen. Doch während Deutschland bereits in der Anfangsphase der Pandemie mehrere Hunderttausend Testungen pro Woche organisierte, waren es in den ersten beiden Märzwochen in Frankreich lediglich 12.000.
Gleichzeitig verordnete der Präsident seinem Volk einen Lockdown, der deutlich schärfer war als der im Nachbarland. Lediglich einen Kilometer durften sich die Franzosen im Umfeld ihrer Wohnung bewegen - wenn sie ein unterschriebenes "Ausgehformular" vorweisen konnten. Nach dem Abflauen der ersten Welle wiederum fielen die Lockerungen weitreichender aus als jenseits des Rheins.
Seit einiger Zeit steigen nun die Infektionszahlen in Frankreich wieder. Ende vergangener Woche verkündeten die Behörden sogar ein exponentielles Wachstum. Die Bundesregierung hat mittlerweile eine Reisewarnung für die Hauptstadtregion Paris sowie die Mittelmeerküste ausgegeben.
Entwarnung aus der Provinz
Gerät die Pandemie in Frankreich also wieder außer Kontrolle? Sabrine Pinto ist Hausärztin in einem kleinen Ort 40 Kilometer südwestlich von Paris. Auch in ihrer Praxis stellen sich seit einigen Tagen vermehrt Corona-Patienten vor. Im Schnitt sind rund ein Drittel der Testungen in der Praxis positiv.
Die Gefahr einer erneuten Überlastung des Gesundheitssystems sieht die Ärztin zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht. Sie berichtet von fast ausschließlich symptomlosen Patienten, bei denen der Test derzeit anschlägt. Häufig junge Erwachsene im Alter von 20 bis 30 Jahren. Kein hohes Fieber, kein Schnupfen, kein Husten - ganz anderes als noch im März oder April.
Dass Frankreich nun jeden Tag mehrere Tausend Neuinfektionen verzeichnet, hängt aus ihrer Sicht nicht nur mit vermehrten Ansteckungen während des Urlaubs zusammen, sondern auch mit der massiven Ausweitung der Testungen. Sogar vor beliebten Party-Locations in der Hauptstadt werden derzeit kostenlose Corona-Tests angeboten.
Angst vor einer zweiten Welle
Dass diese Tests häufig positiv ausfallen, dürfte auch damit zusammenhängen, dass ein Großteil der Maskengegner und Abstandsverweigerer in dieser Altersgruppe zu finden ist. In ihrer Praxis und auch in den Geschäften, so Sabrine Pinto, hielten sich dagegen nahezu alle an die Regeln.
"Nach den Erfahrungen mit Corona im Frühjahr, haben hier viele Angst vor dem Virus," erklärt sie. Beobachtungen, die sich mit einer aktuellen repräsentativen Umfrage der Tageszeitung "Le Figaro" decken. Danach zeigen sich 80 Prozent der Franzosen besorgt über die Pandemie-Lage in ihrem Land. Auf dem Höhepunkt der ersten Welle waren es mit 90 Prozent vergleichbare Werte.
Die Politik versucht derweil, gegenzusteuern. Seit Freitag gilt in Paris und den angrenzenden Départements eine Maskenpflicht auch unter freiem Himmel. Weitere große Städte haben ähnliche Regelungen eingeführt.
Paris delegiert
Wenn am heutigen Dienstag für mehr als zwölf Millionen Schülerinnen und Schüler die Ferien enden, sind lediglich Kinder unter elf Jahren vom Maskenzwang während der gesamten Schulzeit befreit. Eine weitere Verschärfung der Vorschriften hat der Bildungsminister ausdrücklich nicht ausgeschlossen.
Doch anders als im Frühjahr will die Regierung des stark zentralisierten Landes in Zukunft mehr Entscheidungen der Corona-Bekämpfung an untere Ebenen delegieren: die Präfekten und Bürgermeister von fast 35.000 Kommunen.
"Sie sind die Handelnden vor Ort, die am besten die lokal erforderlichen Maßnahmen treffen können", verkündete der neue Premierminister Jean Castex. Eine Regelung, die an das Subsidiaritätsprinzip in Deutschland mit größtmöglicher Selbstbestimmung und Eigenverantwortung erinnert.
Das "Vorbild Deutschland" stößt allerdings an seine Grenzen. Die Offiziere in Bazeilles haben aufmerksam registriert, dass in Deutschland am vergangenen Wochenende zehntausende Corona-Kritiker auf die Straße gegangen sind. In Paris ist so ein Szenario zurzeit undenkbar.
"Die Erfahrungen aus dem Frühjahr mit den überfüllten Intensivstationen haben den Franzosen vor Augen geführt, wie gefährlich Covid-19 sein kann," sagt Frankreich-Forscherin Julie Hamann. Eine Lektion, die Deutschland bislang noch nicht lernen musste.