Frankreichs zerrissene Linke
31. März 2017"Der Wahlkampf ist echt schwierig für uns", ärgert sich Julien Laurent. "Dieses Jahr sind wir nur ganz wenige Wahlhelfer." Laurent ist einer der wenigen Unterstützer, die für die Sozialisten auf der Straße Werbung machen. Im Arbeiterviertel Wazemmes in der nordfranzösischen Stadt Lille verteilt er mit einer Handvoll Kollegen das Wahlprogramm des sozialistischen Kandidaten Benoit Hamon. Laurent klingelt an jeder Tür - macht niemand auf, wirft er das schmale Heft in den Briefkasten. Öffnet jemand, lädt Laurent ihn mit einem breiten Lächeln zu Hamons Wahlkampfveranstaltung am nächsten Tag ein.
Drei Parteien, drei Kandidaten
Hamon liegt laut Umfragen bei etwa zehn Prozent. Chancen, in die Stichwahl zu kommen oder gar François Hollandes Erbe anzutreten, hat er faktisch keine. Julien Laurent gibt trotzdem nicht auf. Vehement feuert er den Rest der Truppe an. Nicht schlappmachen, weiterklingeln. „Hier kann man noch sehen, dass es in Wazemmes früher sehr viele Fabriken gab", Laurent deutet stolz in eine kleine Gasse. Auf einer Straßenseite reihen sich niedrige Backsteinhäuser aneinander. "Hier haben die Arbeiter gelebt. Sie alle waren Sozialisten."
Frankreichs Norden war Jahrzehnte lang linkes Kernland. Mit dem Niedergang der Industrie stieg die Arbeitslosigkeit. Hollandes sozialistische Regierung schaffte es nicht, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Frustriert wenden sich immer mehr Wähler dem rechtspopulistischen Front National und seiner Parteichefin Marine Le Pen zu. Wer weder rechts noch links wählen will, steht vor einer schwierigen Wahl.
"Dieses Jahr gab es gleich vier linke Kandidaten. Einer von ihnen, der Grüne, hat seine Kandidatur mittlerweile zurück gezogen und unterstützt jetzt den Sozialisten Hamon. Somit bleiben drei Kandidaten von drei verschiedenen Parteien übrig", erklärt der Politologe Pierre Mathiot von der Universität Sciences Po in Lille. "Hamon orientiert sich stark an Jean-Luc Mélenchon von der Links-Partei", zieht der Politik-Experte den Vergleich zwischen dem sozialistischen und dem Linksaußenkandidat, der auch von den Kommunisten unterstützt wird. "Auch die Programme der beiden sind sich sehr ähnlich," so der Politloge Mathiot weiter. "Das gibt Emmanuel Macron in der Mitte sehr viel Platz und erklärt seinen aktuellen Erfolg."
Macron war Wirtschaftsminister unter François Hollande. 2016 verließ er die Regierung in einem Richtungsstreit und gründete seine eigene liberale Partei "En Marche". Jetzt bewirbt er sich als Kandidat der Mitte für das Präsidentenamt – mit guten Erfolgsaussichten. Großen Zulauf bekommt Macron von moderaten Sozialisten, die dem Wetteifern am linken Rand zwischen dem linksextremen Mélenchon und dem Sozialisten Hamon nichts abgewinnen können. Selbst der Ex-Premierminister Manuel Valls will den liberalen Macron wählen.
Gebrochene Wahlversprechen
Die Begeisterung rund um Politik-Shootingstar Emmanuel Macron können Julien Laurent und seine Wahlkampf-Truppe nicht nachvollziehen. "Er sagt, er kann die einfachen Leute verstehen, weil er als Student von tausend Euro im Monat gelebt hat", brüskiert sich Wahlhelferin Magalie Herlem. „Das ist doch lächerlich! So viel hatte niemand von uns." Für abtrünnige Parteimitglieder hat Herlem kein Verständnis. "Das sind doch nur Opportunisten, die denken, sie haben mit Macron die besseren Karten für die Zukunft."
"Hamons Wirtschaftsprogramm ist sehr idealistisch", so Politikprofessor Pierre Mathiot über die Wahlversprechen des Sozialisten. "Er verspricht große Investitionen und sorgt sich wenig um die wachsenden Staatsschulden." Vorhaben wie jene Hamons seien in der Vergangenheit bereits gescheitert. Wahlkämpfer Julien Laurent sieht das naturgemäß anders: "Sein Programm kommt bei den Leuten sehr gut an. Zum Beispiel sein Vorschlag, ein unabhängiges Grundeinkommen für alle einzuführen, wird viel diskutiert."
Frankreichs Norden hat wirtschaftliche Anreize bitter nötig. Die Region um Lille hat die meisten Arbeitslosen in ganz Frankreich. Im Vorort Faches-Thumesnil liegt die Quote bei 14%. Meriame Motrani betreibt hier einen Sozialsupermarkt. Ihr Laden liegt an einer Ausfallstraße zwischen Autobahnabfahrt und Flughafen. Motrani wird wieder die Sozialisten wählen, obwohl sie von Hollandes Regierung enttäuscht ist: "Die Löhne sind so niedrig, dass es sich für viele gar nicht lohnt, arbeiten zu gehen", so die Sozialarbeiterin. "Wenn hier einer einen Job findet, rechnet er sich zuerst durch, ob er mit dem Gehalt oder mit dem Arbeitslosengeld besser zurecht kommt." Der Mindestlohn müsse angehoben, am besten das ganze Sozialsystem reformiert werden.
Die Linke im Schatten des Front National
Supermarktbetreiberin Motrani ist in Faches-Thumesnil aufgewachsen. In ihrem Geschäft dürfen Menschen einkaufen, die nach Abzug der Fixkosten monatlich weniger als 300 Euro übrig haben. "Unser Viertel hier war eigentlich immer links, aber jetzt wählen viele die Rechten", schildert Motrani. "Schon bei den letzten Wahlen 2012 ist der Front National deutlich stärker geworden, aber das war noch nichts im Vergleich zu jetzt." Laut Umfragen wird die extreme Rechte im Norden Frankreichs mit rund 35 Prozent der Stimmen klar stärkste Partei sein.
In ihrem Geschäft verkauft Motrani Waren kurz vor dem Verfallsdatum, die in großen Supermärkten im Abfalleimer landen würden. Jeden Morgen werden neue Produkte geliefert, wartende Kunden stehen dann schon ungeduldig auf dem Parkplatz in einer Schlange.
"Ich wollte dieses Mal für Le Pen zu stimmen", so Pascaline Lenne. Sie ist seit drei Jahren Kundin in Motranis Supermarkt, seit kurzem hilft sie als Freiwillige aus. "Ich meine, so kann das doch nicht weitergehen", beklagt sich sie sich. Von ihrer Invalidenrente muss Lenne für sich und ihren arbeitslosen Sohn aufkommen. Er aber habe sie gewarnt, für den rechten Front National zu wählen. "Er hat mir gesagt, dass Le Pen auch nur groß redet und viel verspricht, aber dann nichts halten wird. Also wähle ich jetzt doch den Kommunisten Mélenchon." Denn eigentlich sei sie ja links.
Das Ende der Sozialisten?
Wahlkämpfer Julien Laurent kommt direkt von der Arbeit zur Wahlkampfveranstaltung von Benoit Hamon, seinem Kandidaten. Laurent und seine Kollegen finden nur mehr in den hinteren Rängen Platz. Hier drinnen erinnert nichts an die große Krise der sozialistischen Partei. Die überwiegend jungen Unterstützer schwingen Flaggen und halten Transparente in die Höhe. Als Benoit Hamon die Halle betritt, schallen "Benoit Président"-Rufe durch den Saal. Hamon kämpft sich zur Bühne durch. Auf dem Weg schüttelt er jede Hand, die ihm entgegen gestreckt wird. Zwei Schülerinnen machen ein Selfie mit ihm.
Neunzig Minuten lang spricht Hamon über die 35-Stunden-Woche, Gleichberechtigung und den Front National. Jedes Mal, wenn er den politischen Gegner erwähnt, johlt die Menge. Als er die Le Pen-Familie mit der Mafia vergleicht, brandet begeisterter Applaus auf. Der Beifall ist so groß, dass Hamon seine Rede kurz unterbrechen muss. Trotzdem könnte das eine der letzten Veranstaltungen dieser Art sein. "Die sozialistische Partei wird nach den Wahlen nicht mehr die Gleiche sein. Die Abstimmung wird ein Debakel", ist sich der Wahlexperte und Politikprofessor Pierre Mathiot sicher. Ob die Partei in den nächsten Jahren eine Kleinpartei am linken Rand wird oder sich in der Mitte, vielleicht sogar unter neuem Namen, wiederfindet, hänge davon ab, welcher Flügel nach der Wahlschlappe die Oberhand gewinnen kann.
Wahlhelfer Laurent lassen diese Aussichten jedoch kalt. "Selbst wenn es die Sozialisten nach der Wahl nicht mehr gibt, ich mache weiter. Egal wie die Partei dann heißt."