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Frauen-Power am Tigris

Birgit Svensson, Bagdad15. Juli 2015

Der IS-Bedrohung und dem tagtäglichen Terror zum Trotz: Im Irak treiben Frauen den gesellschaftlichen Wandel voran. Immer mehr drängen in höhere Positionen. Mit Erfolg, wie Birgit Svensson aus Bagdad berichtet.

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Bagdads Bürgermeisterin Thikra Alwasch - Foto: Birgit Svensson/DW
Bagdads Bürgermeisterin Thikra AlwaschBild: DW/B. Svensson

"Ich bin zwar die erste Frau auf diesem Posten, aber nicht die letzte", verkündet Thikra Alwasch selbstbewusst. Sie residiert in einem riesigen Amtszimmer im Rathaus von Bagdad. Massive Holzvertäfelung, tiefe Ledersessel, bunte Glasbausteine, Plastikblumen und ein leise plätschernder Zierbrunnen schmücken den Raum. Seit März ist Alwasch, die in der Öffentlichkeit stets ihr Haar komplett mit einem Schal bedeckt, Bürgermeisterin der irakischen Hauptstadt: die erste Frau auf diesem Posten in der Geschichte ihres Landes und die erste in der ganzen Region. Keine Frau vor ihr führte je die Geschicke einer Hauptstadt in der arabischen Welt.

Ernannt wurde sie von Iraks Premierminister Haider al-Abadi. Ende Februar trat er vor das irakische Parlament und sagte: "Ich bringe euch eine unabhängige Kandidatin für Bagdad." Während die Gouverneure der 18 irakischen Provinzen gewählt werden, ist es Tradition, die Bürgermeister der Millionenstädte zu ernennen. In der Hauptstadt ist dies das Privileg des irakischen Ministerpräsidenten. Aktuell ist also al-Abadi zuständig. Und er hatte schon bei seiner Amtseinführung im September versprochen, dass er die Rolle der Frauen im Irak stärken werde. Mit der Ernennung der Bauingenieurin Alwasch zur Bürgermeisterin von Bagdad zeigte al-Abadi, dass er es mit der Frauenförderung im von Männern dominierten Irak ernst meint. Und die Neue auf der Top-Position gibt sich kämpferisch: "Ich werde allen zeigen, dass Frauen diesen Job packen", sagt Thikra Alwasch. "Nach mir werden noch weitere Frauen kommen."

Frauen machen Karriere

In der Tat trifft man heutzutage überall in Bagdad auf Frauen in Führungspositionen - mal mit, mal ohne Schleier. So steht an der Spitze von "Al-Mada", des größten privaten Medienkonzerns, eine Managerin, die Deutsch-Abteilung der Bagdader Universität wird von einer Frau geleitet und in einem Fünf-Sterne-Hotel der Stadt arbeitet eine Chef-Rezeptionistin. Es finden sich Generaldirektorinnen in den Ministerien, Diplomatinnen im Ausland, Abgeordnete im Parlament, Unternehmerinnen, Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Journalistinnen. Frauen sind einfach überall, in fast allen Berufszweigen. Auch Taxi-Fahrerinnen gibt es, nur Busse oder Bagger lenken sie noch nicht. Auch auf Baustellen findet man Architektinnen oder Bauingenieurinnen. Nur in absoluten Top-Positionen sind Frauen noch selten. Nur zwei der 29 Ministerposten sind von Frauen besetzt, die Provinzgouverneure sind ausnahmslos Männer.

Iraks Ministerpräsident Haider al-Abadi - Foto: AFP/Getty Images
Will gesellschaftliche Rolle der Frauen stärken: Iraks Ministerpräsident Haider al-AbadiBild: AFP/Getty Images

Auch im Privatleben sind Frauen selbstbewusster geworden. Das zeigt eine Studie der Nichtregierungsorganisation International Medical Corps (IMC), die sich mit dem Anstieg der Scheidungsrate beschäftigt. Landesweit liege die Scheidungsrate derzeit bei etwa 25 Prozent, in einigen Bezirken Bagdads sind in den vergangenen fünf Jahren sogar mehr als die Hälfte aller Ehen geschieden worden. Bemerkenswert dabei ist, dass es immer häufiger die Frauen sind, die eine Scheidung einreichen - obwohl das für sie erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Während sich der Mann nach islamischem Recht innerhalb von Stunden scheiden lassen kann, muss eine Frau oft Monate oder gar Jahre vor Gericht darum kämpfen.

Steigendes Selbstbewusstsein

In einer Gesellschaft, in der patriarchalische Strukturen dominieren und Frauen durch eine Scheidung einen erheblichen Verlust gesellschaftlicher Akzeptanz erleiden, kommt dieser Schritt einer Revolution gleich. Wassan Khalid Ibrahim, die beim IMC Frauenprojekte koordiniert, bezeichnet die Entscheidung der Frauen, sich von ihren oft langjährigen Ehepartnern zu trennen, als "Befreiungsschlag".

Journalistin Samarkand al-Djabiri - Foto: Birgit Svensson/DW
Journalistin al-Djabiri: "Irakische Männer wollen Dienstmädchen und keine Partnerinnen"Bild: DW/B. Svensson

Dafür spricht, dass viele der geschiedenen Frauen nicht wieder heiraten, sondern es vorziehen alleine zu leben und zu arbeiten. Andere heiraten erst gar nicht, um Karriere machen zu können. Auch Bagdads neue Bürgermeisterin ist Junggesellin. "Die irakischen Männer wollen Dienstmädchen und keine Partnerinnen", erklärt Samarkand al-Djabiri, die als Journalistin im staatlichen Mediennetzwerk arbeitet. "Darauf haben immer weniger Frauen Lust." Al-Djabiri selbst ist 42 Jahre alt und war noch nie verheiratet.

Auch Ghada al-Amely, die Managerin des privaten Medienkonzerns "Al-Mada", ist ledig. Sie hat einen 14-Stunden-Tag. "Das kann keine Frau machen, die Familie hat", sagt al-Amely.

Folge der Kriegsjahre

Dass heute mehr Frauen am Tigris Karriere machen, hat aber auch noch andere Gründe: In den Terrorjahren nach dem Sturz Saddam Husseins wurde praktisch die gesamte alte Elite ausgelöscht. Während des Bürgerkriegs zwischen Sunniten und Schiiten wurden in Bagdad Hunderte Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren, Lehrer, Beamte, Geschäftsleute, Ingenieure und Journalisten ermordet, entführt, bedroht oder außer Landes getrieben - vorwiegend Männer. Jetzt braucht der Irak dringend eine neue Elite.

"Frauen sind gut ausgebildet und haben große Chancen", beschreibt Medienmanagerin Al-Amely die Situation. Während die jungen Männer im Krieg gewesen seien, hätten viele Frauen studiert. Nun rücken die 40- bis 50-jährigen Frauen nach und machen Karriere - und die Männer sind schon wieder im Krieg, dieses Mal gegen den IS.

Terror-Angst überwinden

Der Bausektor reagiert bereits auf die gesellschaftlichen Veränderungen: Neubauten mit kleineren Wohneinheiten werden errichtet, um der Nachfrage alleinstehender Frauen und alleinerziehender Mütter gerecht zu werden. Denn während früher die Frau nach einer Scheidung in der Regel zurück zu ihrer Familie zog, lebt sie heute zunehmend eigenständig und ernährt ihre Kinder oft ohne Unterhaltszahlungen des Ex-Ehemanns.

Bombenanschlag in Bagdad im Juni 2015 - Foto: picture alliance/AA
Anschläge sind in Bagdad immer noch an der TagesordnungBild: picture alliance/AA

"Das zwingt uns Frauen rauszugehen und die Angst vor dem Terror zu überwinden", meint Samarkand al-Djabiri. In den ersten Terrorjahren wurden gerade die Frauen von religiösen Extremisten eingeschüchtert und trauten sich zuweilen monatelang nicht auf die Straße. Nun seien sie mehr und mehr bereit, den Gefahren zu trotzen, sagt die Journalistin. "Wir müssen doch weiterleben."