Fuggerei: Die älteste Sozialsiedlung der Welt
6. Mai 2022Die Fuggerei mit ihren efeubewachsenen Häusern und lauschigen Plätzen ist eine der größten Touristenattraktionen in Augsburg. Doch die malerische Siedlung im Herzen der bayerischen Stadt ist noch viel mehr - ein großes soziales Projekt, das seit gut 500 Jahren in 67 Häusern und 142 Wohnungen rund 150 bedürftigen Augsburgern ein Dach über dem Kopf bietet. 80 weitere stehen auf der Warteliste.
Wer hier leben will, muss mehrere Bedingungen erfüllen. Festgelegt wurden sie 1521 von dem reichen Augsburger Kaufmann Jakob Fugger. In den "Arme Leute Häusern" wurden Tagelöhner oder Handwerker am Existenzminimum aufgenommen. Ehrbar mussten sie sein und sich um Arbeit bemühen. Bettler hatten keine Chance - für sie waren, so befand Jakob Fugger, Stadt und Kirche zuständig. Außerdem mussten die Bewohner aus Augsburg stammen, katholisch sein und dreimal am Tag für das Seelenheil des Kaufmanns beten.
Im Gegenzug verlangte er einen Rheinischen Gulden an Jahresmiete - das entsprach damals etwa dem Wochenlohn eines Handwerkers. An der Höhe der Miete hat sich auch 500 Jahre später nichts geändert. Heute sind einmal im Jahr symbolische 88 Cent fällig. Auch der katholischen Glaubensgemeinschaft müssen alle Fuggerianer nach wie vor angehören - ob sie allerdings wirklich alle dreimal täglich für den Stifter der Siedlung beten, lässt sich schwer kontrollieren.
Fuggerei-Mieter heute
Noel Guobadia lebt in der Fuggerstadt, seitdem er ein Teenager ist. Heute ist er Ende Zwanzig. Seine alleinerziehende Mutter zog mit ihm und seinem jüngeren Bruder her, weil sie finanziell kaum noch über die Runden kam. "Die meisten Leute, die hier lebten, waren schon ziemlich alt", erinnert sich Guobadia. "Ich habe mir damals schon Sorgen gemacht, ob das gutgeht. Zumal wir die erste Familie mit Migrationshintergrund in der Siedlung waren."
Doch seine Bedenken waren unbegründet. Das Ur-Konzept der Fuggerei fördert den nachbarschaftlichen Zusammenhalt. "Man muss nur miteinander reden", sagt Noel Guobadia. "Wir haben alle gemeinsam im Biergarten gesessen, dann hilft man jemandem dabei, den Fernseher zum Laufen zu bringen - und nach kurzer Zeit hat man das Gefühl, eine zweite Familie bekommen zu haben." Die "Omis und Opis" der Fuggerei seien längst gute Kumpel, mit denen er scherze, Bier trinke und die ihm so manchen guten Rat gegeben hätten. Als Noel mit 20 bei seiner Familie auszog, blieb er der Siedlung treu. Er hat jetzt dort ein kleines Apartment ganz für sich allein.
"Das hat mich von der großen Angst befreit, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Bleibe zu finden", erzählt er. "Dank der geringen Miete konnte ich von dem bisschen Geld, das ich während meiner Ausbildung bekam, gut leben und mich voll auf meine Zukunftspläne konzentrieren."
Gemeinschaftssinn wird groß geschrieben
Ilona Barber lebt seit sechs Jahren in der Fuggerei. Sie hatte sich beworben, weil ihre kleine Rente hinten und vorne nicht reichte. "Heiligabend bekam ich dann die Nachricht, dass ich hier eine Wohnung bekomme", erzählt die 71-Jährige. "Das war mein Weihnachtsgeschenk." Seitdem lebt sie mit zwei Hunden, zwei Katzen und sechs Vögeln auf 55 Quadratmetern - und ist längst eine wichtige Stütze der Siedlung.
Wenn sie nicht gerade am Eingangstor den Touristen einen Obolus für den Besuch der Fuggerei abkassiert - eine der Einnahmequellen der Sozialsiedlung -, dann erledigt sie kleine Aufträge für die Nachbarn oder geht zum Kaffeeklatsch und zu Filmabenden, die von der Fuggerei-Belegschaft organisiert werden. "Ich schätze die Solidarität, die Gemeinschaft hier", sagt sie. "Und natürlich die Tatsache, dass ich nicht jeden Pfennig umdrehen muss."
Zwei Sozialarbeiterinnen kümmern sich um die Fuggerianer. In Doris Herzogs Verantwortungsbereich gehört es, Bewerbungen potentieller neuer Mieter zu prüfen, im Streitfall zwischen Nachbarn zu vermitteln und in Sachen Bürokratie zu helfen. "Ich nehme Kontakt zu Krankenkassen und Gesundheitsdiensten auf, und oft begleite ich die Bewohner auch bei Behördengängen, wenn es um ihre finanzielle Grundsicherung geht", erklärt sie.
Im Gegenzug wird erwartet, dass die Bewohner der Fuggerei sich einbringen, wo es nötig ist - etwa beim Gärtnern oder wenn ein Nachwächter gebraucht wird. Denn jeden um Abend Punkt 22 Uhr werden die Tore zu dem "Dorf in der Stadt" verriegelt. Jeder Bewohner, der danach noch in die Fuggerei möchte, muss dem Nachtwächter 50 Cent bezahlen.
Die Geschichte der Fuggerei
Jakob Fugger unterschrieb die Gründungsurkunde für die Fuggerei am 23. August 1521. Dass der Kaufmann, der vor allem durch den Abbau von Silber, Kupfer und Erzen reich wurde, verarmten Bürgern seiner Stadt dabei half, wieder auf die Beine zu kommen, war ungewöhnlich für die damalige Zeit. Wenn Familien verarmten, wurden sie meist auseinandergerissen und in Arbeitslager geschickt. Von dort gab es in der Regel kein Entkommen mehr. "Jakob Fugger hat den Menschen ermöglicht, als Familie zusammenzubleiben", sagt Astrid Gabler, Pressesprecherin der Fugger-Stiftung. "Er war überzeugt davon, dass sie dann eher wieder auf die Beine kommen würden."
Seit den Gründungstagen ist die Fuggerstadt kontinuierlich gewachsen. Es kamen neue Wohnungen hinzu und im Zweiten Weltkrieg wurde ein Bunker gebaut, wo die Bewohner sich bei Bombenangriffen in Sicherheit brachten. Mittlerweile gibt es in der Fuggerei auch einen Souvenirladen und ein Museum für die vielen Touristen.
Der Blick nach vorn
Zum Abschluss des Jubiläumsjahres, das von August 2021 bis Juni 2022 geht, werden ab dem 6. Mai in einem Pavillon auf dem Augsburger Rathausplatzdie Ideen für eine Fuggerei der Zukunft vorgestellt. Im Zentrum steht der "Fuggerei-Code" - als "Blaupause für zukünftige Fuggereien rund um den Globus", so Astrid Gabler. "Jakob Fugger schuf hier ein Modell. Wir wünschen uns, dass in Zukunft überall auf der Welt Fuggereien entstehen."
Dabei solle man natürlich die lokalen Begebenheiten berücksichtigen, so Gabler. "Der katholische Hintergrund der Augsburger Fuggerei spiegelt die damalige Zeit und das Umfeld wider." Aber man könne sich auch durchaus säkulare Fuggereien oder solche vorstellen, wo andere Glaubensgemeinschaften leben, "solange sie humanistische Ideale vertreten".
Die Fuggerei-Stiftung liegt immer noch in Händen der Fugger-Familie. Soll sozial verträgliches Wohnen in Zukunft von reichen Wohltätern abhängig sein oder soll es Stiftungen der öffentlichen Hand geben? Oder eine Kombination beider Modelle? Solche Fragen wurden und werden in Augsburg diskutiert.
Bewohner Noel Guobadia ist sich der langen Historie der Fuggerei durchaus bewusst. "Ich war der jüngste Mieter, der jemals allein in einer Wohnung der ältesten Sozialbausiedlung der Welt gelebt hat", lacht er. "Ist doch cool, mit Ende Zwanzig bin ich Teil einer 500 Jahre alten Geschichte. Das sollte ich mir auf meinen Pullover drucken lassen."
Bei diesem Text handelt es sich um eine Aktualisierung eines Artikels von August 2021. Übersetzung aus dem Englischen: Suzanne Cords