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Gastfamilien für Demenzkranke gesucht

Vera Kern2. Februar 2014

Einen Demenzkranken zu Hause betreuen? Noch dazu einen fremden? Für viele unvorstellbar. Doch es gibt Menschen, die genau das wollen - und können. Ein ambitioniertes Modellprojekt sucht geeignete Gastfamilien.

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Symbolbild einer Seniorin.
Bild: picture-alliance/dpa

Klaus Niel kippt den letzten Schluck Kaffee aus seinem Pappbecher und stapft los zu einem Bauernhaus, das gar nicht danach aussieht. Im Auto hat er noch gerätselt, ob es ein richtiger Hof mit Tieren und Trecker ist. Jetzt läutet er bei einem Reihenhaus aus roten Klinkersteinen. Es ist eine Exkursion ins Ungewisse. Denn Klaus Niel will herausfinden, ob die Frau, die gleich öffnet, geeignet ist, einen fremden Menschen mit Demenz bei sich zu Hause zu betreuen. Es ist die entscheidende Phase eines Modellprojekts der Diakonie Düsseldorf - Gastfamilien für Demenzkranke zu finden.

"Wollen Sie gleich gucken gehen?" Nein, erstmal noch einen Kaffee im Esszimmer miteinander trinken. Es ist das erste Mal, dass Klaus Niel hierher gefahren ist, in einen 3000-Seelen-Ort rund 70 Kilometer von Düsseldorf entfernt. Bislang kennt er die potenzielle Gastgeberin und ihre Familie nur vom Telefon. Als die 47-Jährige zu erzählen beginnt, klingt es fast wie der Lebenslauf einer Bilderbuchkandidatin: Ausbildung zur Krankenschwester, Arbeit auf einer Geriatrie-Station, private Pflege und Betreuung eines älteren Paares. Und dann ist da noch die demente 81-jährige Dame, die seit ein paar Monaten mit im Haus lebt - es ist ein Mehrgenerationenhaus mit drei eigenen Kinder und einer Pflegetochter. "Da haben Sie ja eine Menge Erfahrung, das ist echt Wahnsinn", findet der Demenzkoordinator von der Diakonie Düsseldorf.

Klaus Niel, Demenzkoordinator der Diakonie Düsseldorf(Foto: DW/V-Kern)
Klaus Niel, Demenzkoordinator der Diakonie DüsseldorfBild: DW/V.Kern

Ein "normales Zuhause"

Laut Bundesgesundheitsministerium sind in Deutschland bis zu 1,4 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. Bis zum Jahr 2030 sollen es 2,2 Millionen sein. Schon jetzt stellt sich für viele Angehörige die schwierige Frage: Heim oder Betreuung daheim?

Zwei Drittel entscheiden sich dafür, den demenzkranken Verwandten zu Hause zu betreuen. Das muss jedoch nicht zwangsweise die eigene Familie sein, meint Klaus Niel. Im Gegenteil: Wird der Partner oder die eigene Mutter "wirr" im Kopf, verändern sich auch die Persönlichkeit und somit die Beziehung zueinander. "Etwas nur aus Verpflichtung zu machen ohne ein bisschen Eigeninteresse und Spaß dabei - das kann nicht gut gehen." Beim Modellprojekt der Diakonie Düsseldorf soll der Gast in einem "normalen" Zuhause leben und an einem "normalen" Alltag teilnehmen können - ohne die familiäre Vorbelastung.

Ein wichtiges Kriterium bei der Wahl einer Gastfamilie ist der Wohnraum. Also inspiziert Herr Niel das Gästezimmer. Es ist ebenerdig im Erdgeschoss mit einem Badezimmer gleich nebenan. Geradezu ideal. Der Gast kann sich zurückziehen, und auch die Gastgeberfamilie hat im ersten Stock ihr eigenes Reich. Dann geht es raus. Es riecht nach Pferdemist und Stall. Selbst ein Rollstuhl kann hier direkt in den Hof fahren. Hinter der Scheune erstreckt sich eine riesige Wiese: Links schnattern die Gänse, hinten grasen Pferde, dazwischen laufen Hühner, Hunde und Katzen frei herum. Es ist tatsächlich ein Bauernhof.

Klaus Niel von der Diakonie Düsseldorf und die potenzielle Gastgeberin laufen im Garten (Foto: DW/V-Kern)
Bild: DW/V.Kern

Der Rundgang und das Gespräch erinnern etwas an ein WG-Casting. Man beschnuppert sich, klärt auch alltagstaugliche Fragen, die beim Zusammenleben wichtig sind: Raucher? Vegetarier? Frühaufsteher? Doch vor allem versucht Herr Niel sich so genau wie möglich vorstellen zu können, ob ein Alltag mit einem demenzkranken Gast hier möglich wäre. Auf Dauer oder auch für einen Kurzaufenthalt von ein, zwei Wochen.

Schulung und Qualitätskontrolle

Erfahrung mit der Betreuung von Demenzkranken ist keine zwingende Voraussetzung, aber ein Pluspunkt. Wer sich schon mal Tag und Nacht um eine verwirrte Person gekümmert hat, weiß schließlich genau, wie anstrengend das manchmal sein kann. Den Projektkoordinatoren der Diakonie ist es wichtig, dass sich niemand falsche Vorstellungen macht.

Deshalb bekommen auch alle ernsthaften Kandidaten zwei Wochen lang eine intensive Schulung. Es geht dabei weniger um Fachwissen, sondern darum, "ein Verständnis für das veränderte Erleben der Menschen mit Demenz zu schaffen", wie es die Sozialpädagogin Julia Richarz beschreibt, die das Projekt mit koordiniert. Elf Interessenten kommen derzeit in Frage. Bei der Schulung und der anschließenden Hospitation in einer Alzheimer-Einrichtung soll getestet werden, wie gut die Interessenten sich in der Praxis bewähren. Zudem wird das Projekt wissenschaftlich von der Universität Witten-Herdecke begleitet, die auch für Evaluation und Qualitätskontrolle der Betreuung zuständig ist.

Sinnvolles tun als Motivation

Warum wollen Menschen einen Demenzkranken bei sich zu Hause aufnehmen? Wer tut sich das an, Tag und Nacht für einen verwirrten, fremden Menschen da zu sein? Die Vorbehalte gegen das Projekt seien groß, erzählt Klaus Niel. Die Hauptmotivation der meisten sei etwas Sinnvolles tun zu wollen.

Gästezimmer für einen Menschen mit Demenz (Foto: DW/V.Kern)
Ein barrierefreies, eigenes Zimmer ist VoraussetzungBild: DW/V.Kern

"Reich werde ich damit sicherlich nicht", weiß auch die potenzielle Gastgeberin. Denn mit Demenzkranken zu leben ist ein 24-Stunden-Job. Warum sie das machen wolle? "Mich um andere zu kümmern wurde mir in die Wiege gelegt, ich mache das einfach gerne", sagt sie. Finanziert wird das Projekt vom Gesundheitsministerium und den Pflegekassen des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Rund 1000 Euro soll eine Gastfamilie pro Monat bekommen für Miete und Pflege. 400 Euro davon sind eine sogenannte Anerkennungspauschale.

Neu ist die Idee des "Betreuten Wohnens in Familien" nicht: Seit den 1980er Jahren leben psychisch Kranke oder Behinderte in Gastfamilien. Doch bei alten Menschen mit Demenz schwingt bei diesem Versorgungskonzept immer die ungläubige Frage mit: Wer will das denn machen? Trotz erster Erfahrungen damit in Baden-Württemberg und Bayern. Auch Hans-Jürgen Freter von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ist skeptisch:" Es kann sicherlich für einige Menschen ein gutes Konzept sein. Aber ich denke, insgesamt kann das in Zukunft nicht für sehr viele Menschen die Lösung sein."

Hier auf dem Bauernhof könnte es ein Zukunftsmodell sein. Zufrieden verabschiedet sich Klaus Niel nach zwei Stunden. Denn der Besuch hat sich gelohnt. Die Großfamilie könnte tatsächlich ein Zuhause für einen Menschen mit Demenz sein. "Auf meiner Plusseite sind eine Menge Plus", sagt er.