Die Deutschen und ihr Grundgesetz
Die Deutschen mögen ihre Verfassung. Sie wird politisch gerne als Wertegrundlage beschworen. Obwohl die nationalen Verfassungen im zusammengewachsenen Europa der EU an Bedeutung verlieren, richtet sich in Deutschland stets aufmerksam der Blick nach Karlsruhe, dem Sitz des Bundesverfassungsgerichts. Hier geht es nicht nur um Rechtsprechung, sondern auch um ein Stück nationaler Selbstvergewisserung. Solche normativen Identitätsleistungen werden wieder wichtiger.
Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten viele geglaubt, die Menschheit befinde sich auf dem Weg in eine universelle Weltrepublik. So wie die Staaten Europas sich in der Europäischen Union zusammengeschlossen hatten, so würde demnächst die ganze Welt unter dem Dach der Vereinten Nationen friedlich zueinander finden. Schaut man sich heute um, so gibt es kaum noch solche ungetrübten Zukunftserwartungen. Stattdessen stoßen wir überall auf Identitätssuche, Rückbesinnung auf kulturelle, religiöse oder nationale Muster des politischen Zusammenhalts. Doch die Rückgriffe auf Muster der Vergangenheit oder auch Zukunftskonstruktionen einer diversen Gesellschaft können die Öffentlichkeit spalten.
Das alte Nationalgefühl passte nicht mehr
Da ist Deutschland vielleicht besser daran als manche ältere Demokratie, weil es sich mehr auf den Rechtstext "Grundgesetz" als auf Nationalstolz beruft. Im Erschrecken über die eigene Geschichte wollte das alte Nationalgefühl nicht mehr passen. Weil jede Gemeinschaft dennoch Identitätsangebote braucht, wurden typische Ersatzfelder - vor allem auf dem Gebiet wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit - gesucht und gefunden. Die Verfassung und das von ihr geschaffene Bundesverfassungsgericht waren ebenfalls ein Angebot zur Identitätsbildung. Der Verfassungspatriotismus schien eine akzeptable, ja eine wünschenswerte Form nationaler und staatlicher Integration.
Das Grundgesetz steht bei den Deutschen heute hoch im Kurs. Anders als die gescheiterte Weimarer Verfassung hat sie das Regelsystem einer stabilen parlamentarischen Demokratie geschaffen. Die Konkurrenz zwischen einem starken Präsidenten und einer schwachen Regierung wurde beseitigt. Der Bundespräsident ist ein rein repräsentatives Amt, die Kanzler geben den Ton an, wenn es ihnen gelingt ihre Mehrheit im Parlament zu organisieren.
Bleibt die repräsentative Demokratie stabil?
Aus Parteien, die zur Weimarer Zeit wie kämpferische Weltanschauungsgemeinschaften wirkten, wurden unter der Herrschaft des Grundgesetzes große Volksparteien, die durch kleine sogenannte Funktionsparteien ergänzt wurden. Sowohl die CDU/CSU als auch die SPD konnten in diesem System immer wieder über 40 Prozent der Wählerstimmen erzielen.
Heute ist das Bild verändert. Die politische Linke, die früher allein durch die SPD repräsentiert wurde, hat sich in drei Parteien aufgegliedert, und auch der CDU/CSU ist auf der rechten Seite eine populistische Konkurrenz erwachsen. Mehr als 30 Prozent scheint für eine einzelne Partei kaum noch möglich. Zum ersten Mal breitet sich Unbehagen aus, ob das Parteiensystem und die repräsentative Demokratie unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen genauso stabil bleibt wie gewohnt. Die Verfassung wird jetzt zum Schutzschild. Das Grundgesetz mit seiner Voranstellung der Würde des Menschen, mit seinen Grundrechten wird Populisten des rechten Randes entgegengehalten, während links außen in der Gesellschaft darüber debattiert wird, ob mit dem Grundgesetz Verstaatlichungen der Wirtschaft möglich sind.
Aktuelle Themen in die Verfassung schreiben?
Eine neue Neigung geht dahin, politisch aktuelle Themen in die Verfassung zu schreiben, schon weil das Druck auf die politische Konkurrenz macht: Wer will schon "Nein" sagen, wenn es um die Aufnahme des Klimaschutzes, von Kinderrechten oder um Geschlechterparität geht. Aber das sind manchmal nur politische Schaukämpfe. Letzten Endes ist das Grundgesetz als Verfassung eine gelungene, aber abstrakte Werteordnung und ein bewährtes Regelsystem.
Die Würfel fallen woanders: Wie geht es weiter im vereinten Europa? Wie kann sich die EU behaupten, ohne ihre wirtschaftliche und technische Potenz zu verlieren? Bleibt die Wirtschaft stabil und der innere Frieden erhalten? Die Wählerinnen und Wähler müssen vorsichtig sein und die Politiker sollten handfeste Lösungen suchen und gut erklären. Das Grundgesetz wollte ein offenes, ein europäisches, ein friedliches Deutschland: Darin muss wieder mehr investiert werden.
Udo Di Fabio (65) ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Von 1999 bis 2011 war er Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.