Die Zukunft des unabhängigen Journalismus
Wir leben in unübersichtlichen und unberechenbaren Zeiten. Die Weltordnung scheint sich aufzulösen. Europa und Amerika entfremden sich. China greift nach der globalen Vormacht. Russland agiert immer ruchloser. Islamisten stürmen die offene Gesellschaft. Populisten sind von London bis Budapest auf dem Vormarsch. Künstliche Intelligenz könnte die Menschen zu Dienern der Algorithmen machen. Ein Virus versetzt die Welt in den Ausnahmezustand und zeitweise in Stillstand.
Gründlich recherchierte, wahrheitsgemäße Informationen werden in unübersichtlichen und unberechenbaren Zeiten immer wichtiger - das ist eine historische Chance für den Journalismus. Doch währenddessen wandelt sich unser Geschäftsmodell von einem analogen zu einem digitalen. Eine großartige Transformation, die viele Verlage aber auch vor existenzielle Fragen stellt.
Was journalistische Unabhängigkeit ausmacht
Es geht um die Zukunft des unabhängigen Journalismus. Genauer gesagt: um "Unabhängigkeit" und um "Journalismus". Wir gebrauchen diese beiden Worte oft routiniert und selbstverständlich. Schließlich kann bei uns jeder oder jede im Rahmen der Gesetze schreiben, was sie oder er möchte. Aber das bedeutet nicht, dass das auch geschieht. Die Einflussnahme und der Druck, denen wir ausgesetzt sind, können subtil sein. Was macht die Unabhängigkeit von Journalismus aus? Es sind aus meiner Sicht wenige, aber essenzielle Bedingungen.
Erstens: die Bereitschaft, sich mit den Mächtigen anzulegen. Für die Suche nach der Wahrheit und den Mut, gesellschaftliche Missstände beim Namen zu nennen, haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Menschen ihre Karriere, ihre Freiheit und nicht zuletzt ihr Leben riskiert. Gerade wir, die wir aus der Behaglichkeit eines Rechtsstaates berichten, müssen uns dafür einsetzen, dass Journalisten frei und ohne Bedrohung ihrer Gesundheit oder ihres Lebens berichten können. Im Jahr 2018 sind 63 Journalisten getötet worden. Im Jahr 2019 waren es 38. Der Einsatz für dieses Ziel lohnt sich. Aber 38 sind 38 zu viel! Und leider bin ich nicht sicher, ob sich die Lage der Journalisten in Zukunft positiver entwickeln wird.
Zweitens: Wahre Unabhängigkeit setzt finanzielle Unabhängigkeit voraus. Die private Finanzierung, ein intaktes Geschäftsmodell sind für den unabhängigen Journalismus ein wesentliches Merkmal. Nur das garantiert Vielfalt. Nur wenn finanzielle Anreize möglichst viele Unternehmer dazu bringen, in Journalismus zu investieren, kann Vielfalt und Wettbewerb entstehen.
Nähe und Distanz
Journalismus ist ein ständiges Kalibrieren zwischen Nähe und Distanz zu den Zentren der Macht. Journalisten müssen nah an der Politik und ihrem Geschehen sein, um die Dinge genau zu sehen. Ebenso müssen sie sich davon aber wieder lösen können, um die Dinge aus der Distanz zu betrachten. Beide Perspektiven sind wichtig. Wenn es aber um die Finanzierung privater Medien geht, können wir nicht fern genug sein von den staatlichen Institutionen.
Drittens: Wirkliche Unabhängigkeit setzt Vielfalt voraus. Diese Vielfalt erfüllt zwei Funktionen: Zunächst einmal ist der publizistische Wettbewerb um die beste Geschichte, aber auch der vielstimmige Chor unterschiedlicher Perspektiven und Kommentierungen essenziell für die Klärung von Fakten. Der Wettbewerb verschiedener Medien ist das einzige wirksame Rezept gegen Fake News, Propaganda und Manipulation. Daneben schützt die mediale Vielfalt die Freiheit der Presse als Ganzes: Politiker mögen im Fall einer unliebsamen Veröffentlichung gegen einzelne Medien vorgehen. Sie können aber nicht eine ganze Branche zum Schweigen bringen. Das bedeutet: Je mehr vitale journalistische Angebote existieren, desto geringer die Einflussmöglichkeiten des Staates auf jeden Einzelnen von uns.
Regulierung der Plattformen
Für die Unabhängigkeit und die Vielfalt unserer Zeitungen brauchen wir faire Wettbewerbsbedingungen. Das gilt auch besonders im Verhältnis zu den großen Plattformen. Es darf nicht passieren, dass zwei bis drei globale Plattformen die Infrastruktur Tausender Verlage ersetzen und darüber entscheiden, was Milliarden von Kunden zu lesen bekommen, was richtig ist und was falsch, was gut ist und was schlecht.
Immer häufiger und immer kritischer wird dieser Tage in politischen Kreisen die Rolle großer Plattformen diskutiert. Dabei ändert sich der Ton. Immer öfter wird nicht die Frage diskutiert, ob diese marktbeherrschenden Unternehmen zerschlagen werden sollen. Sondern wann und wie. Aus meiner Sicht kann dies nur das letzte Mittel sein. Und es muss dazu nicht kommen. Wir wollen nur gesunde erfolgreiche Akteure in einem fairen und intakten medialen Öko-System sein.
Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform
Deshalb braucht es bessere, modernere, agilere Regulierung, die den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht wird. Eine wortlautgetreue Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform gehört ebenso dazu wie eine wirkungsstarke Plattformregulierung.
Ich bin fest überzeugt: Wenn kritischer Journalismus weiterhin eine prägende Rolle in unserer Gesellschaft spielt, wenn Journalismus wirtschaftlich gesund und staatsfern bleibt, wenn Medien weiterhin unabhängig arbeiten können, dann werden die Probleme von der großen Geopolitik bis zur scheinbaren Allmacht der künstlichen Intelligenz lösbar sein. Dann wird die offene Gesellschaft, basierend auf Rechtsstaat und Menschenrechten, die größte Errungenschaft der Moderne, triumphieren.
Mathias Döpfner ist Präsident des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV), der Spitzenorganisation deutscher Zeitungsverlage. Außerdem ist er Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE. Bei dem vorliegenden Kommentar handelt es sich um eine gekürzte Fassung seiner Rede zum BDZV-Kongress am 15. September 2020.