"Naive Freude an der Freiheit"
18. Januar 2017Mitte Februar 2012: Der 72-jährige Joachim Gauck ist im Taxi auf dem Weg vom Flughafen nach Hause, als sein Leben noch einmal eine überraschende Wende nimmt. Das Handy klingelt und Bundeskanzlerin Angela Merkel teilt ihm mit, dass ihre Partei ihn als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten nominieren wolle. Gauck bedankt sich und fügt hinzu, es sei ihm bewusst, dass ihr das nicht leicht gefallen sei. Er weiß, dass die Kanzlerin einmal gesagt haben soll: "Eines ist klar, Gauck wird's nicht".
Dann wird er's doch. Im zweiten Anlauf, mit großer Mehrheit in der Bundesversammlung. Anderthalb Jahre zuvor hatte Angela Merkel die Präsidentschaft Gaucks noch verhindert: Er stammt zwar wie sie aus Ostdeutschland, doch er gilt als unberechenbar und eigenwillig.
Manches davon blitzt in Gaucks nun folgender Amtszeit im Schloss Bellevue auf. Etwa, wenn er eine deutsche Wiedergutmachung für die Nazi-Verbrechen in Griechenland befürwortet, während die Regierung um dieses Thema wie die Katze um den heißen Brei schleicht. Oder wenn er die türkischen Massaker an den Armeniern "Völkermord" nennt, bevor sich die Regierung dazu entschließen kann. Wie weit soll sich ein Bundespräsident in die Tagespolitik einmischen? Gauck begibt sich auf dünnes Eis, wenn er mehr militärisches Engagement Deutschlands fordert oder die Wahl eines linken Ministerpräsidenten in Thüringen kritisiert.
Eine Behörde, die seinen Namen trägt
Der 1940 geborene Mecklenburger ist nicht nur wortgewaltig - "Ich war ein ziemlich großmäuliger Schüler" -, sondern er bringt auch ein unbekümmertes Selbstbewusstsein ins Amt mit. Deutschlandweit, aber besonders im Westen, verleiht ihm seine DDR-Biographie als aufmüpfiger Pfarrer mehr Glaubwürdigkeit als dies eine Karriere in den etablierten Parteien der Bundesrepublik gekonnt hätte. Er habe die Würde des Amtes wieder hergestellt nach seinen zwei frühzeitig zurückgetretenen Vorgängern im Präsidentenamt, Horst Köhler und Christian Wulff, heißt es.
Bald macht er der Kanzlerin Konkurrenz bei den Popularitätsumfragen. Erstaunlicherweise ist er unter den Westdeutschen noch beliebter als im Osten. Im Osten scheiden sich die Geister an Gaucks zehnjährigem Wirken als "Sonderbeauftragter für die personengebundenen Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit". Er sei weniger Verwalter als vielmehr Richter und Ankläger gewesen, lautet ein Vorwurf seiner Kritiker, darunter auch einiger ehemaliger Mitstreiter aus der Bürgerbewegung. Die von ihm geführte Behörde wird im Volksmund zur "Gauck-Behörde", in der SED-Nachfolgepartei nennt man ihn "Großinquisitor", was er als "bösartig" empfindet.
Schicksal des Vaters als "Erziehungskeule"
Joachim Gaucks Gegnerschaft zum DDR-System rührt aus einer schmerzlichen Erfahrung der Jugendzeit. Als er selbst elf Jahre alt ist, wird sein Vater wegen eines Westkontaktes in ein sibirisches Arbeitslager verschleppt und erst vier Jahre später wieder freigelassen. Das Schicksal des Vaters sei "zur Erziehungskeule" geworden, die auch "die kleinste Form der Fraternisierung" mit dem System ausschloss, schreibt Joachim Gauck in seinen Erinnerungen. Deshalb wird er in der DDR nicht Journalist, wie er eigentlich gewollt hätte, sondern studiert Theologie, wird Pfarrer, organisiert Jugendarbeit, später evangelische Kirchentage, argwöhnisch beäugt von Erich Mielkes Staatssicherheit. Er sei ein "unbelehrbarer Antikommunist", heißt es in deren Akten, "der unter dem Deckmantel der kirchlichen Friedensarbeit" agiere.
Im Herbst 1989 schließt er sich der gerade entstandenen Bürgerrechtsbewegung "Neues Forum" an, wird Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer und dort ins Amt des obersten Stasi-Akten-Verwalters gewählt, mehr durch Zufall, wie er selbst berichtet. Gauck wird zu einer der zentralen Figuren im deutsch-deutschen Einigungsprozess, das Wort "gaucken" zum Synonym für die Überprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst. Gauck macht sich die Forderung der Mehrheit der Bürgerrechtler zueigen, streitet für die gesetzlich geregelte Öffnung der Stasi-Akten, warnt vor einem Schlussstrich unter der Vergangenheit. Im Jahr 2000, nach zwei Amtsperioden an der Spitze der Stasi-Unterlagen-Behörde, spricht er von "tiefer Genugtuung, dass wir ein Spezialgesetz geschaffen haben, das zur Delegitimierung der vergangenen Diktatur beigetragen hat".
Reisender Demokratielehrer
Die folgenden zwölf Jahre ist er publizistisch als "reisender Demokratielehrer" unterwegs, bevor ihn der Anruf der Kanzlerin im Taxi ereilt. Seinem Lieblingsthema, der Freiheit, bleibt er auch als Bundespräsident treu. Seine Begeisterung dafür rührt aus der Erfahrung von Mauer und Diktatur. "Ich kannte den mitleidigen Blick jener, die meine beständige Freude an westlicher Freiheit für naiv hielten, […] die mich anschauten, als wäre ich gerade aus einer primitiven Kultur zugewandert", schreibt er.
Sein zweites großes Thema wird die Versöhnung mit den Nachbarn: Die erste Auslandsreise führt ihn nach Polen, Fotos zeigen ihn Hand in Hand mit Frankreichs Präsident François Hollande in Oradour, mit Griechenlands Präsident Karolos Papoulias in Lingiades oder neben Petro Poroschenko in Babyn Jar in der Ukraine - Orte nationalsozialistischer Massaker.
Wenn es emotional wird, geht Gauck gern auf Tuchfühlung und er hat nahe am Wasser gebaut. Kein Bundespräsident vergießt so oft und öffentlich Tränen der Rührung. In seine Amtszeit fallen auch die Feiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes. Auf einem Foto ist er auf den Seelower Höhen nahe Berlin zu sehen, wo eine der letzten blutigen Schlachten des Zweiten Weltkrieges tobte. Gauck geht Hand in Hand mit greisen Kriegsveteranen. Die kommen aus dem Land, das einst seinen Vater verschleppte.
Repräsentant einer Epoche
Lange lässt er die Öffentlichkeit im Unklaren darüber, ob er für eine zweite Amtszeit zur Verfügung steht. Im Juni 2016 dann sagt er ab, aus Sorge vor schwindender Tatkraft. Leicht fällt ihm die Entscheidung nicht. Die Flüchtlingspolitik und das Erstarken der rechtspopulistischen AfD lassen ihn grübeln, ob er nicht eigentlich als Stabilitätsanker bleiben müsste.
Am Ende seiner Amtszeit schließt sich der Kreis seines politischen Wirkens. Die Wochen der Befreiung 1989 seien für ihn das zentrale Erlebnis des eigenen politischen Lebens geblieben, sagt er beim Abschiedsbesuch in der Stasi-Behörde. "Freiheit ist schön, aber Befreiung ist noch emotionaler."