Gaza: Kampf um die Krankenhäuser
17. November 202336 Krankenhäuser gibt es im Gazastreifen, doch nach Angaben der UN sind zwei Drittel von ihnen nicht mehr funktionsfähig. Das verbliebene Dutzend Kliniken ist hoffnungslos überfüllt, hier spielen sich dramatische Szenen ab: Dicht an dicht drängen sich Hochschwangere und Krebspatienten neben Schwerstverwundeten und Traumatisierten. Viele der Verletzten sind Kinder und Jugendliche. Strom gibt es, wenn überhaupt, nur stundenweise, teilweise müssen Operationen im Schein von Handytaschenlampen durchgeführt werden.
Tausende Menschen, berichtet die Organisation Ärzte ohne Grenzen, wurden seit Beginn des Krieges verwundet, viele von ihnen befinden sich in einem kritischen Zustand. Hinzu kommen zehntausende weitere Menschen, die äußerlich zwar unverletzt geblieben sind, aber vor den anhaltenden Kämpfen in Gaza in den Hospitälern Schutz suchen. Um die größte Not zumindest ein wenig zu lindern, haben etwa Frankreich und Italien mittlerweile Marineschiffe mit integriertem Krankenhaus und eigenen Operationssälen vor die Küste Gazas geschickt.
Warum sind die Krankenhäuser von so zentraler Bedeutung?
Knapp sieben Wochen ist es nun her, dass die militant-islamistische Hamas Israel angriff, mindestens 1200 Menschen tötete und etwa 240 weitere als Geiseln nach Gaza verschleppte. Israel antwortete zunächst mit Luftschlägen, seit knapp drei Wochen aber auch mit einer Bodenoffensive. Und hierbei rücken die Kliniken Nord-Gazas immer mehr ins Zentrum der Kampfhandlungen. Sie sind die einzige Hoffnung für zahlreiche Verletzte und Verwundete - und einer der wenigen verbliebenen Rückzugsorte für den Teil der Zivilbevölkerung, der nicht in den Süden des Gazastreifens geflohen ist. Aber sie sind nach israelischen Angaben vermutlich auch Kommandozentrale, Waffenkammer und Geiselbunker der Hamas. Und deshalb sind sie - so deutlich wie kaum je zuvor in der Geschichte - selbst zum Angriffsziel geworden. Zwar wurden auch in vorherigen Konflikten schon gezielt Krankenhäuser beschossen - wie zuletzt im kriegszerrissenen Syrien. Dass jedoch Krankenhäuser gezielt von der einen Kriegspartei als Schutzschild missbraucht und dadurch zum expliziten Kriegsziel der anderen werden, ist eine neue, so bisher noch nicht dagewesene Dimension.
Welche Kliniken sind besonders umkämpft?
Die Gefechte im Norden Gazas konzentrieren sich dabei vor allem auf vier Kliniken:
Das Al-Schifa-Krankenhaus ist die größte Klinik des Gazastreifens - zuletzt sollen sich UN-Angaben zufolge mindestens 2300 Menschen dort aufgehalten haben. Wegen der anhaltenden Gefechte harren Kranke, Verletzte, Flüchtlinge und medizinisches Personal trotz katastrophaler Versorgungslage weiter dort aus. Israel vermutet unter der Klinik eine Kommandozentrale der Hamas und wirft der Organisation vor, Zivilisten als "menschliche Schutzschilde" zu missbrauchen. Die israelische Armee teilte mit, sie habe in der Klinik Waffen und ein "operatives Hauptquartier" der Hamas entdeckt. Das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium im Gazastreifen bestritt dies.
Nicht weit entfernt liegt das Rantisi-Kinderkrankenhaus. Dort war die israelische Armee bereits am Montag eingedrungen. Im Keller soll sich eine verlassene Kommandozentrale der Hamas befinden, außerdem habe man "Hinweise" sicherstellen können, die belegen sollten, dass die Hamas einige der verschleppten Geiseln dort gefangen gehalten haben könnte. Das Klinikum selbst ist nicht mehr in Betrieb, Israels Armee erklärte, die letzten Patienten "in ein sichereres Krankenhaus" evakuiert zu haben. Der Direktor der Kliniken im Gazastreifen, Mohammed Sakut, sprach hingegen von einer Zwangsevakuierung des Kinderkrankenhauses, bei der Patienten "ohne Versorgung auf der Straße" zurückgelassen worden seien.
Das Al-Kuds-Krankenhaus etwas weiter südlich verfügt über rund 100 Betten, UN-Angaben zufolge hatten sich aber in den vergangenen Wochen bis zu 14.000 Menschen vor den Kämpfen auf das Klinikgelände geflüchtet. Am vergangenen Sonntag, so berichtete der Palästinensische Rote Halbmond, musste es seinen Betrieb einstellen, weil die Treibstoff-, Wasser- und Nahrungsmittelvorräte aufgebraucht waren. Die dort ausharrenden Menschen wurden nach Süden evakuiert. Bei Gefechten rund um das Krankenhaus sollen zuvor israelischen Angaben zufolge 21 militante Palästinenser getötet worden sein.
Das 110 Betten besitzende Indonesische Krankenhaus wurde 2015 von Jakarta finanziert und liegt in Dschabalija, der größten Flüchtlingssiedlung des Gazastreifens. Israelische Bombardements sollen nach Angaben der Hamas mindestens 30 Menschen in der Klinik getötet haben. Auch hier vermutet Israel eine unterirdische Kommandozentrale der Hamas, was diese bestreitet. Zudem soll sich ein Raketenabschussplatz der Hamas in unmittelbarer Nähe der Klinik befunden haben.
Was sagt das Völkerrecht dazu?
Grundsätzlich genießen Krankenhäuser - genauso wie etwa Schulen, Gotteshäuser oder Trinkwasservorrichtungen - als zivile Einrichtungen vor dem humanitären Völkerrecht einen besonderen Schutz. Im Krieg dürfen diese Einrichtungen im Normalfall nicht angegriffen werden. Allerdings schreibt das Völkerrecht auch vor, "dass zivile Objekte […] nicht dazu missbraucht werden dürfen, um militärische Handlungen zu unterstützen". In einem solchen Fall verlieren diese Objekte ihren besonderen Schutzstatus. Sollte die Hamas, die von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft wird, tatsächlich solche Einrichtungen als "menschliche Schutzschilde" für ihre militärische Kommandozentralen nutzen, stellt das nach humanitärem Völkerrecht ein Kriegsverbrechen dar.
Wird ein Krankenhaus also eindeutig militärisch genutzt, ist ein israelischer Angriff darauf vom Völkerrecht gedeckt, allerdings nur unter ganz engen Auflagen. "Selbst wenn das der Fall ist, entbindet das Israel nicht von der Pflicht, Zivilisten zu schützen", erklärt Marc Weller, Professor für internationales Recht an der Universität von Cambridge, gegenüber der DW. "Es sind keine freiwilligen menschlichen Schutzschilde, die sich in diese Gefahr begeben. Es sind Zivilisten, die ihren Anspruch auf Schutz nicht verlieren." Israels Gewaltanwendung müsse "gezielt gegen die Hamas und ihre Kämpfer gerichtet sein", so Weller. "Das bedeutet, dass Israel keine Angriffe auf Ziele durchführen darf, bei denen die Schädigung der Zivilbevölkerung im Verhältnis zu dem militärischen Nutzen, den diese Art von Angriffen mit sich bringt, übermäßig hoch ist." Dies muss auch während eines laufenden Militäreinsatzes immer wieder neu bewertet werden. Sollte sich währenddessen herausstellen, dass angegriffene Gebäude nicht (mehr) militärisch genutzt werden, müssen diese Angriffe schnellstmöglich wieder eingestellt werden.
Rechtsstaatsarmee gegen Terrororganisation
Israels Armee befindet sich also auf einer äußerst schwierigen Gratwanderung. Dennoch müsse man die Situation klar rücken, erklärte Völkerrechtler Christoph Safferling von der Universität Erlangen gegenüber der ARD: "Die israelische Armee ist eine demokratische Armee eines Rechtsstaats, die sich um die Einhaltung des humanitären völkerrechtlichen Rahmens bemüht und ihre Soldatinnen und Soldaten entsprechend schult. Der Gegner ist die Hamas, eine terroristische Organisation, die sich nicht um das Völkerrecht schert und offensichtlich hier, soweit wir sehen, durch Geiselnahme und die Verwendung von Menschen als Schutzschilde Kriegsverbrechen begeht."
Entsprechend sind allerdings auch die moralischen Ansprüche, denen sich die israelische Armee stellen muss. "Israel muss sicherstellen, dass die Schäden an der Zivilbevölkerung nicht in einem Missverhältnis zu dem militärischen Gewinn stehen, den eine bestimmte Operation bringt", so Völkerrechtler Marc Weller zur DW. "Und das scheint etwas zu sein, das problematischer wird, je länger dieser Konflikt andauert und je mehr die militärischen Aktionen auf israelischer Seite unverhältnismäßig viele Zivilisten treffen."