Gaza-Konflikt heizt Antisemitismus-Debatte an
30. Juli 2014Am Dienstagabend (29.7.) gingen in München zahlreiche Prominente aus Politik, Kirche und Gesellschaft gegen Antisemitismus auf die Straße. Bei der Kundgebung vor mehreren hundert Menschen zeigte sich die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, entsetzt über Judenhass auf deutschen Straßen und das Schweigen der Bevölkerung. Als Holocaust-Überlebende erlebe sie gerade, dass Antisemitismus in Deutschland nicht nur wieder salonfähig, sondern "Mainstream" sei. Der Nahost-Konflikt diene oft nur als Vorwand. "Der neue alte Judenhass - er ist da", sagte die 82-Jährige.
Telefone stünden nicht still, Briefkästen und E-Mail-Postfächer seien voll: "Wir werden beschimpft, beleidigt, bedroht und auch körperlich angegriffen", sagte die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. "Wir Juden erleben in diesem, unserem Lande die bedrohlichste und kummervollste Zeit seit 1945." Auch beklagte sie eine mangelnde Unterstützung der Deutschen für ihre jüdischen Mitbürger. Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU) nannte judenfeindliche Äußerungen einen "Virus, der die gemeinsame Heimat untergräbt". Die bayerische Landtagspräsidentin Barbara Stamm sagte, antisemitische Parolen seien eine Schande für unser Land.
"Mitleid für Palästina als Waffe gegen Israel"
Die evangelische Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler erklärte, sie empfinde den Konflikt zwischen Israel und Palästina als "offene Wunde". Der Krieg im Nahen Osten sei manchen "willkommener Anlass, ihren antijüdischen Ressentiments freien Lauf zu lassen". Das Existenzrecht Israels dürfe nicht bestritten werden. Mitleid für Palästina werde zur Waffe, um Leid für Israel gut zu heißen. "Das ist Perversion ehrlicher Solidarität", betonte die Theologin.
Unterdessen verübten ebenfalls am Dienstag drei Männer einen Brandanschlag auf die Bergische Synagoge in Wuppertal. Sie warfen mehrere Molotow-Cocktails in den Eingangsbereich des jüdischen Gotteshauses. Ein Tatverdächtiger wurde festgenommen. Noch am selben Abend nahmen mehrere hundert Menschen an einer Kundgebung vor der Synagoge teil. Oberbürgermeister Peter Jung rief zu Solidarität mit der jüdischen Gemeinde auf. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, verurteilte den Brandanschlag, ebenso der Zentralrat der Muslime in Deutschland, der dieser Tage seinerseits vermehrte Übergriffe auf Moscheen beklagt.
Seit Beginn der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen vor drei Wochen kommt es in Deutschland laut dem evangelischen Pressedienst (epd) "verstärkt zu Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Friedhöfe". Der Zentralrat der Juden in Deutschland äußert sich dazu nicht, verweist aber auf die Berliner Amadeu Antonio Stiftung, die derartige Fälle seit 2001 auf ihrer Internetseite dokumentiert, nach Schilderung von Betroffenen und aufgrund von Zeitungsmeldungen. Ihre "Chronik antisemitischer Vorfälle 2014" verzeichnet seit Januar 98 solcher Taten. Dazu zählt das Urinieren am Berliner Denkmal für die ermordeten Juden ebenso wie eine vermeintlich judenfeindliche Karikatur in der Süddeutschen Zeitung, das Umwerfen von Grabsteinen auf jüdischen Friedhöfen oder judenfeindliche Schmierereien an öffentlichen Gebäuden. "Wir registrieren eine Zunahme der Übergriffe", bestätigt die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, im DW-Gespräch.
Offzielle Zahlen geben Entwarnung
Nach Angaben des Bundesinnenministeriums hat die Zahl der antisemitisch motivieren Straftaten im zurückliegenden Jahrzehnt deutlich abgenommen. Zwischen 2001 und 2013 sank diese von 1.691 um etwa ein Viertel auf 1.275 Straftaten. Hingegen erhöhten sich im gleichen Zeitraum die antisemitisch motivierten Gewaltdelikte - wozu Tötungsdelikte ebenso zählen wie Brandstiftungen, Erpressung, Raub und Sexualdelikte - auf 51 Delikte im Jahr 2013. "Aussagen über die Entwicklungen der letzten Wochen sind leider nicht möglich", so ein Sprecher des Bundesinnenministers gegenüber der Deutschen Welle.
Eine "Explosion der antisemitischen Äußerungen im Internet" beobachtet derweil die Berliner Linguistik-Professorin Monika Schwarz-Friesel. Bisher habe es bei Krisen in Nahost "immer wieder Wellen und Fluten" judenfeindlicher Äußerungen in sozialen Netzwerken und auf Internetseiten gegeben. "Zurzeit übersteigt es aber quantitativ wie qualitativ, was wir in den letzten Jahren gesehen haben", so die Forscherin im Gespräch mit der Deutschen Welle. Häufig würden Verschwörungstheorien über ein Meinungsdiktat geäußert, wonach Israel im öffentlichen Diskurs nicht kritisiert werden dürfe. Vergleiche etwa mit den Verbrechen der Nazis seien keine legitime politische Kritik. "Vielmehr kommt da ein tiefes Ressentiment gegenüber Juden zum Vorschein", so die Berliner Forscherin, die soeben ein Forschungsprojekt zu "Antisemitismus im Internet" begonnen hat.