Ohne Davidstern auf die Straße?
30. Juli 2014"Momentan fühle ich mich beinahe als Außenminister Israels", meint Eliott Reich, 22, Student in Berlin. In Deutschland geboren und aufgewachsen gehört Eliott dem jüdischen Glauben an. Wie viele junge Leute jüdischen Glaubens in Deutschland beschäftigt ihn die momentane Situation in Nahost sehr. Doch mittlerweile beobachtet er eine andere Situation mit Sorge: den wachsenden Antisemitismus in Deutschland, seiner Heimat.
Vor kurzem nahm Eliott an einer pro-israelischen Demonstration in Berlin teil. Die aggressive Stimmung der Teilnehmer einer Gegendemonstration schockierte ihn. Sie skandierten Ausrufe wie "Hamas, Hamas! Juden ins Gas!". Diese Ausrufe hätten für ihn nichts mehr mit Israel-Kritik zu tun, meint er, sie seien "geradeheraus antisemitisch". "Mit legitimer Israel-Kritik habe ich überhaupt kein Problem. Aber zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus gibt es einen Riesenunterschied."
Das erste Mal Angst
Die starke Polizeipräsenz, welche bei jeder Pro-Israel-Demonstration zu sehen ist, soll die Teilnehmer beruhigen. Der Zugang zu den Demonstrationen wird bewacht, Taschen werden durchsucht. Eliott und seine Freunde fragen sich: Wieso ist das in Deutschland überhaupt nötig? "Wieso kann nicht, zumindest hier, friedlich und ohne Angst vor Angriffen, demonstriert werden?"
Diese neue Welle von Antisemitismus, welche wohl hauptsächlich von Menschen mit muslimischem Hintergrund ausgeht, verbreitet sich momentan immer stärker in Europa und wird auch in Deutschland immer mehr sichtbar. Dort mischt sie sich mit Anhängern der links- und rechtsextremen Szene. Gerade junge deutsche Juden, welche so starke anti-jüdische Stimmungen zum ersten Mal in ihrem Leben miterleben, sind verunsichert. Sie verstehen nicht, wie so etwas heutzutage überhaupt passieren kann.
Man merkt auch Eliott an, dass die Situation ihn sehr beschäftigt. Je stärker die Ausschreitungen werden, desto mehr mischt sich auch bei ihm Sorge unter die Gefühle. "Wird der Antisemitismus in Europa irgendwann wieder so stark zutage treten, das wir Juden unsere Religion selbst hier nicht mehr frei ausleben können?", fragt er am Ende des Gesprächs.
Deutschland Thema im israelischen Parlament
Mike Delbergs Eltern sind aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Ein wichtiger Grund war, dass man dort als Jude seine Religion nicht frei ausleben konnte. Was momentan in Deutschland geschieht, beunruhigt den 24-Jährigen. Mike ist in Deutschland geboren, es ist seine Heimat, hier möchte er leben. Mike ist sehr aktiv im politischen Gemeindeleben, er engagiert sich in verschiedenen Bereichen, unter anderem leitet er das jüdische Studentenzentrum in Berlin. Vor einigen Tagen wurde er in das israelische Parlament eingeladen, um dort über die Auswirkungen des aktuellen Nahostkonflikts auf Deutschland zu reden.
Was ihn sehr beschäftigt, ist die Berichterstattung darüber in Deutschland. Wenn Medien einseitig berichten oder Fakten schlichtweg nicht erwähnen, wirkt sich dies seiner Meinung nach sehr auf die Stimmung in Deutschland aus.
Schockiert hat ihn, als Freunde von ihm die antisemitische Stimmung selbst erleben mussten. "Zwei Freundinnen von mir wurden in Berlin von arabischen Jugendlichen angepöbelt und angerempelt, weil sie einen Davidstern trugen." Viele Leute hätten zugesehen und nicht interveniert, ein deutscher Mann hat dann irgendwann eingegriffen.
Diese Aggressionen machen vielen jüdischen Menschen in Deutschland Angst. Einige von Mikes Freunden überlegen, bevor sie aus dem Haus gehen, ob sie ihre Davidstern-Kette als Symbol für das Judentum, dort, wo sie heute hingehen, gefahrenlos tragen können. Mike fragt sich, ob erst physisch etwas passieren muss, damit die Polizei und auch die Politik stärker eingreift, um die eigenen Bürger zu beschützen. Denn für ihn ist Fakt: "Als deutscher Bürger jüdischen Glaubens fühle ich mich in Deutschland nicht mehr zu 100 Prozent sicher!"
Antisemitismus statt Israel-Kritik
Viele deutsche Bürger jüdischen Glaubens stellen eine freie und sichere Religionsausübung ihres Glaubens, die in der westlichen Welt selbstverständlich sein sollte, mittlerweile in Frage. Aileen, 21, aus Hamburg, möchte ihren Nachnamen hier nicht abgedruckt haben. Auch sie ist in Deutschland geboren, auch sie ist jüdischen Glaubens. Aileen macht sich, nach allem was in den letzten Wochen passiert ist, Sorgen. Denn sie befindet sich momentan in einer der europäischen Städte, wo die antisemitischen Stimmungen am stärksten zu beobachten sind. Im Rahmen ihres Studiums hat sie gerade ein Semester in Paris studiert. Es hat ihr dort so gut gefallen, dass sie sich dazu entschlossen hat, zwei weitere Monate für ein Praktikum dort zu bleiben.
"In Paris gibt es eine verhältnismäßig große jüdische Gemeinde. Das hat mir, da ich dies aus Hamburg nicht so gewöhnt bin, sehr gefallen." Doch durch die momentanen Zustände fängt sie an, ihre Meinung zum Sicherheitsgefühl für Juden in Europa zu ändern. "Die Aggressionen, die man hier sieht, sind extrem. Angezündete Autos und Angriffe auf Synagogen machen einem Angst." Mit Davidstern auf die Straße zu gehen, ist nicht mehr etwas, was sie einfach unbedenklich machen würde. Ihrer Meinung nach, darf es in Deutschland nie so weit kommen wie in Paris, vorher müsse eingegriffen werden. Denn wenn sie sich die Diskussionen ihrer Freunde und Bekannten in Deutschland auf sozialen Netzwerken wie Facebook durchliest, sieht sie eine Tendenz. Sie beobachtet immer mehr, dass die Diskussionen weder Pro-Palästina noch Anti-Israel, sondern schlichtweg antisemitisch sind. Und darin liegt ihrer Meinung nach ein großes Problem.