Gedenken an Buchenwald-Befreiung
12. April 2015Schweigend schaut Henry Oster über das weite Gelände. Grauer Stein, vereinzelt Gebäude, am Rande Buchen und Birken. Dahinter geht der Blick weit ins Thüringer Land. Frühlingssonne, die Ahnung von neuem Grün. Aber für all das hat der 86-Jährige keinen Blick. "Ich kann es nicht verstehen. Man kann es doch gar nicht verstehen!" Er meint die Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind. Osters Welt war in den letzten Wintermonaten 1945 das Konzentrationslager Buchenwald - an diesem Hang unweit von Weimar.
Hier errichtete Nazi-Deutschland 1937 ein Konzentrationslager. In deutscher Gründlichkeit klärten die Verantwortlichen den Namen. Weimar? Nein, natürlich nicht. Weimar, den Ort wertschätzte der Führer, Weimar war Kultur, Zentrum deutscher klassischer Kultur. Auch "Ettersberg", den Namen der Erhebung, verwarfen sie. Da klang doch schon Johann Wolfgang von Goethe durch, der wohl bekannteste Weimarer, der den Ettersberg flanierend durchschritt und ihn im Werk erwähnt.
56.000 Tote
Von 1937 bis 1945 sperrten die Nazis in Buchenwald Menschen ein. Politische Gegner, Kommunisten, Homosexuelle, ausländische Gefangene, Juden, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, missliebige Kirchenvertreter. Im System Buchenwald, zu dem das KZ auf dem Ettersberg und mehr als 50 kleine Außenlager - zumeist an Stätten kriegswichtiger Produktion - zählten, litten über 250.000 Häftlinge. 56.000 überlebten nicht. Als am 11. April 1945 die ersten Panzer der US-Armee an das KZ heranrückten, erhoben sich die widerständisch gut organisierten Häftlinge und setzten noch Dutzende Soldaten der fliehenden SS-Truppen fest.
Henry Oster erlebte als junger Bursche diesen Moment. Gut zwei Monate zuvor war er mit einem "Todesmarsch" und in einem Viehwaggon aus Auschwitz nach Buchenwald gekommen. Er erinnert sich an die Leichen auf den Weg dorthin. Und dann sagt er, dass er der letzte Überlebende von 2011 Kölner Juden sei, deren Leidensweg mit der Deportation nach Lietzmannstadt begann.
Kultur und Kulturlosigkeit
Und immer wieder: Weimar. Dieser zentrale Ort der deutschen Geistesgeschichte. Goethe und Schiller, Herder und Wieland, Hummel und Liszt... weitere Namen wären zu nennen. Im Schatten - oder besser über den Dächern - dieser kleinen kulturellen Metropole errichteten die Nazis das Lager, das als größtes KZ auf deutschem Boden zu einem Ort der Kulturlosigkeit wurde. Im Thüringer Land en Brennpunkt deutscher Geschichte zwischen Höhen und schrecklicher Tiefe.
Als Kind, erzählt die fast 90-jährige Ungarin Eva Pusztai, habe sie immer nach Weimar gewollt, "zu Schiller und Goethe und Lotte und Liszt. Ich war so ungeduldig." Sie bedrängte ihre Eltern. Und dann schaute sie irgendwann mal aus dem Zug und sah das Bahnhofsschild. "Ich war in Weimar, der Stadt meiner Träume..."
"Das Grab der Freiheit"
In den Tagen nach der Befreiung am 11. April 1945 führten die amerikanischen Soldaten Bewohner Weimars zu tausenden ins Lager - damit sie die Leichenberge und das Krematorium mit eigenen Augen sähen. Wo doch viele sagten, sie hätten von all dem nichts gewusst! Unsinn, sagt Oster. Der 86-Jährige erinnert daran, dass des öfteren nach Bombenangriffen auf Weimar Häftlinge aus Buchenwald in Weimar hätten Trümmer räumen, auch Leichen bergen müssen. "Wie kann da nur irgendjemand sagen, er habe vom Lager nichts gewusst. Dachten sie, hier war eine Vergnügungsstätte?" Für Oster ist Weimar das "Grab der Freiheit und der Friedhof der Demokratie".
An diesem Sonntag erinnert ein "Europäischer Festakt" an die Befreiung. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) und der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD) halten Reden, sprechen von der "Hölle" des Lagers, gerade Schulz findet auch bewegende Worte. Die europäische Einigung sei auch "Antwort auf Auschwitz und Buchenwald". Und beide schauen in die Gegenwart, sprechen so besorgt von Fremdenfeindlichkeit wie beim Brandanschlag, der zehn Tage zuvor in Tröglitz eine Flüchtlingsunterkunft unbewohnbar machte. Auch am Rande des sachsen-anhaltinischen Ortes Tröglitz war einst ein Außenlager von Buchenwald.
"Trauma, zu dem wir immer zurückkehren"
Doch anrührender, dramatischer, trauriger als jedes Politikerwort ist jeder Auftritt, auch jede Szene, in der sie einander drücken und herzen, schicksalsverbunden im Nie-vergessen. Charles R. Harmon, der an seinem 20. Geburtstag als US-Soldat das KZ befreite und nun - 70 Jahre und ein Leben später - an seinem 90. Geburtstag zurückkehrt - wie einige Kameraden in der damaligen, verwaschenen Uniform. Oder Eva Pusztais traurige Schilderung vom "Trauma, zu dem wir immer zurückkehren. Heute, morgen, übermorgen."
Auch der 92-jährige Ed Carter-Edwards, dessen Maschine der kanadischen Air Force im Sommer 1944 nahe Paris abgeschossen wurde und der für dreieinhalb Monate nach Buchenwald kam, ist heute wieder da. "Sie haben die Menschen behandelt wie Tiere". Und dann schluchzt er, als er die Namen der Freunde nennt, die im Lager starben und im Krematorium endeten, "irgendwo muss ihre Asche doch sein." Und wenn zu Beginn des Festaktes Ramelow mitteilt, dass Floreal Barrier, der Vorsitzende des Beirats ehemaliger Buchenwald-Häftlinge doch nicht sprechen könne und am Morgen ins Weimarer Krankenhaus eingeliefert worden sei, kämpfen nicht nur die Menschen im Saal mit der Rührung.
Es ist 15:15 Uhr - die Zeit, die die Uhr am kleinen Turm über dem Eingang zum KZ seit Jahrzehnten stets zeigt. Für Eva Pusztai, Henry Oster, Marko Feingold und die anderen endete zu dieser Zeit das Leben in Todesangst und täglichem Leid. Aber irgendwie ist es ihre bleibende, lastende Zeit, die diese letzten Zeugen nie loslassen wird. "Das alles vergisst man doch nie!"