Prozessauftakt 20 Jahre nach "Carandiru"
21. April 2013Überfüllte Zellen, mangelhafte Hygiene und schlechte ärztliche Betreuung. Missbrauch unter den Insassen und Gewalt durch das Wachpersonal. Die brutalen Verhältnisse im brasilianischen Strafvollzug führten vor 20 Jahren in Carandiru, einem Stadtteil von São Paulo, zu einem Blutbad.
Mehr als 7000 Häftlinge saßen im damals größten Gefängnis Lateinamerikas - mehr als das Doppelte der offiziellen Kapazität. Allein 2000 Gefangene waren im Block für Ersttäter und Untersuchungshäftlinge untergebracht, als dort am 2. Oktober 1992 eine Revolte unter den Insassen ausbrach. Die Polizei fackelte nicht lange und stürmte das Gebäude mit 330 schussbereiten Polizisten. Sie töteten 111 der rebellierenden Häftlinge und verletzten weitere 87. Auf Seiten der Polizei wurden 22 Personen verletzt.
Keine Verurteilungen
Bisher musste sich einzig der damalige Polizei-Kommandant Ubiratan Guimarães vor Gericht verantworten, weil er den Schießbefehl gegeben haben soll. 2006 wurde er freigesprochen, wenige Monate später von Unbekannten ermordet.
Nun sollen endlich die Täter zur Verantwortung gezogen werden. 84 Polizisten stehen seit Montag (15.04.2013) unter Anklage wegen Körperverletzung, versuchter Tötung und Mord. Die Chancen auf eine Verurteilung stehen schlecht: "Bis auf die Morde sind die Taten bereits verjährt. Zudem werden die Verteidiger auf mildernde Umstände plädieren, da ihre Mandanten nur Befehle ausgeführt hätten", glaubt Bruno Shimizu, Leiter der Arbeitsgruppe Strafvollzug im Bundesstaat São Paulo.
Symptomatischer Gewaltausbruch
Dass die Mühlen der brasilianischen Justiz besonders langsam mahlen, ist nicht neu. Auch das ist ein Grund für die überfüllten Vollzugsanstalten: "40 Prozent der Häftlinge sitzen in Untersuchungshaft - viele von ihnen länger als ihre gesamte Strafe wäre", mahnt der Leiter von Amnesty International Brasil (AI), Atila Roque. Auch von den 111 Toten von Carandiru waren 89 noch nicht verurteilt.
Insgesamt sollen Schätzungen zufolge in dem berüchtigten Gefängnis zwischen der Öffnung 1956 und der Schließung 2002 1300 Gefangene getötet worden sein. Doch verbessert haben sich die Zustände seither nicht. "Seit 1992 sind in Brasilien pro Jahr 40 Häftlinge durch die Gewaltanwendung von Beamten gestorben, das bedeutet alle drei Jahre ein Carandiru", rechnet Shimizu vor. Nicht darin enthalten seien andere Todesursachen wie mangelnde medizinische Versorgung.
Unwillige Justiz
Es sei offensichtlich, dass die brasilianische Justiz unfähig oder unwillig ist, einen Staatsbediensteten zu verurteilen, findet Shimizu. Der Menschenrechtler Roque sieht das ähnlich: "Die späte Aufnahme des Carandiru-Verfahrens zeigt auch, dass es weiterhin eine enorme Akzeptanz für die Misshandlung von Gefängnisinsassen und Verbrechen gegen Straftäter gibt." Die meisten Richter, sagt er, kämen aus der Mittelschicht und urteilten eher nach ihrer eigenen Moral als nach den Buchstaben des Gesetzes.
Weiter wirft Roque den Richtern vor, die Menschen ungleich zu behandeln - je nach Herkunft, Hautfarbe und sozialer Schicht. So musste etwa der angeklagte Kommandant Guimarães nie ins Gefängnis, obwohl er 2001 in erster Instanz für schuldig befunden worden war.
Besserung nicht in Sicht
Verbesserungen der Zustände in den Haftanstalten sind indes nicht in Sicht. "Heute sitzen rund eine halbe Million Menschen in brasilianischen Gefängnissen - viermal so viele wie vor zehn Jahren", berichtet Shimizu, der auch als Pflichtverteidiger arbeitet. Das liege auch daran, meint Amnesty-Chef Roque, dass das Gefängnis im Prinzip die einzige Strafe sei, die das Rechtssystem vorsehe.
Hilfe für die Häftlinge kommt vor allem von anderen Häftlingen: Kurz nach dem Carandiru-Massaker gründeten sich kriminelle Organisationen innerhalb der Gefängnisse. Wo sie aktiv sind, sind Aufstände, Crack-Handel und Vergewaltigungen von Neuankömmlingen seltener. Sie lassen ihre Mitglieder jedoch auch in Freiheit nicht in Ruhe. Und wer sich gegen sie stellt, lebt gefährlich.
Der Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder der Revolte von Carandiru wird daran nichts ändern. "Carandiru wird ungesühnt bleiben", glaubt Jurist Shimizu. "Eine Antwort auf die Menschenrechtsverletzungen wird es jedenfalls nicht geben."