Gefängnisse als Brutstätten für organisierte Kriminalität
26. August 2014Es spricht Bände, dass die brasilianischen Zeitungen ihre Berichte über die Gefängnis-Revolte in Cascavel in der Rubrik "Cotidiano", also "Alltag", unterbringen: Am Sonntagmorgen (24.08.2014) hatte eine Gruppe Gefangener beim Frühstück die Aufseher überwältigt und zwei von ihnen als Geiseln genommen. Ein Großteil der mehr als 1000 Insassen schloss sich dem Aufstand an.
Im Laufe des Montags hatten die Gefangenen mit den zuständigen Behörden verhandelt. Am Dienstag ließen die Häftlinge ihre Geiseln frei und übergaben das stark beschädigte Gefängnis den Behörden. Die meisten Gefangenen wurden in andere Anstalten überführt.
Häufige Zwischenfälle in Gefängnissen
Tödliche Gewalt ist in brasilianischen Gefängnissen keine Seltenheit. Der Staatsanwalt Bruno Shimizu schätzt, dass jährlich 40 Gefangene allein durch Sicherheitsbeamte getötet werden. Hinzu kommt die Gewalt unter Gefangenen. Anfang 2014 wurde eine monatelang dauernde Mordserie in einer Haftanstalt im nordbrasilianischen São Luis bekannt, als der Tageszeitung "Folha de São Paulo" ein Video zugespielt wurde, das die enthaupteten Leichen mehrerer Häftlinge zeigte.
Auch in Cascavel wurden zwei Häftlinge enthauptet, drei weitere stießen die Aufständischen vom Dach des Gebäudes 12 Meter tief in den Tod. Eine Strafe für Verräter, ein Racheakt gegen Mitglieder verfeindeter Banden? Dass eine Gefängnis-Gang dahinter steckt, scheint gewiss, auch weil die Aufständischen Bettlaken mit der Aufschrift "Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit" hissten.
Organisierte Häftlinge üben Druck aus
Das ist der Slogan des PCC ("Primero Comando da Capital", dt.: "Erstes Hauptstadtkommando"). Die Häftlings-Gang PCC wurde in den 90er Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis nahe São Paulo gegründet. Vorausgegangen war die brutale Niederschlagung eines Aufstandes im berüchtigten Carandiru-Gefängnis 1992, bei dem Sicherheitsbeamte 111 rebellierende Häftlinge töteten. Von Beginn engagierte sich das PCC - wie in Cascavel - für bessere Haftbedingungen. Doch es ging wohl auch schon immer um die Kontrolle der Mitinsassen.
Heute gilt das PCC mit mehr als 11.000 Mitgliedern (davon etwa drei Viertel in Gefangenschaft) als mächtigste kriminelle Organisation Brasiliens. Bankraub, Entführung und Erpressung und vor allem Drogenhandel über die Landesgrenzen hinaus gehören zu den Aktivitäten, die die Gang-Bosse teilweise aus ihren Zellen heraus koordinieren.
Auf Haftverschärfungen reagieren die Gangster mit Vergeltungsschlägen gegen Polizei und Zivilisten. 2006 wurden bei Auseinandersetzungen mit der Polizei in São Paulo 150 Menschen getötet. Auch in São Luis brannten Autobusse, als die Polizei die Sicherheitsvorkehrungen verschärfte, genau wie nun in Cascavel. Und auch die Einigung zwischen Behörden und Gangstern ist nicht neu. Schon die schweren Unruhen in São Paulo endeten schlagartig nach einem Treffen der Gangbosse mit hohen Polizei- und Regierungsbeamten.
Drakonisches Regime unterstützt den Staat
"Die Gefängnisse in Brasilien sind nicht die Lösung für das Problem der Kriminalität, sie verstärken es", sagt die Politikwissenschaftlerin Camila Nunes Dias von der brasilianischen Bundesuniversität ABC. Ein grundlegendes Problem sei die Überfüllung der Haftanstalten: Mehr als eine halbe Million Menschen sitzen derzeit in brasilianischer Haft, dabei sind die Gefängnisse nur für gut 300.000 Insassen ausgelegt. Berichten zufolge haben nur die Hälfte aller Gefängnisse genug Betten für alle Gefangenen.
Unter diesen Umständen entgleite dem Staat die Kontrolle über die Gefängnisse. Dadurch entstehe ein Machtvakuum, das von kriminellen Gruppen wie dem PCC besetzt werde, erklärt Nunes Dias und kommt zu dem scheinbar paradoxen Schluss, dass Gangs und Staat auf diese Weise zu Partnern würden: "Ohne das Regime der Gangs könnten der Staat überhaupt nicht so viele Häftlinge unter so unmenschlichen Bedingungen gefangen halten."
Brasilien kein Einzelfall
Gründe für die extreme Überfüllung sieht Atila Roque, Chef von Amnesty International Brazil, vor allem im brasilianischen Strafrecht, das Freiheitsentzug praktisch als einzige Strafmaßnahme vorsehe. Aber auch die Justiz trage eine Mitschuld: "40 Prozent der Häftlinge in Brasilien sitzen in Untersuchungshaft - viele von ihnen länger als ihre gesamte Strafe wäre." Das hat dazu geführt, dass sich die Zahl der Häftlinge seit 1992 mehr als vervierfacht hat.
Mit dieser Entwicklung steht Brasilien nicht alleine da. In kaum einem lateinamerikanischen Land ist die Situation bedeutend besser - abgesehen von einigen Karibikinseln sind die Gefängnisse in allen Ländern zumindest latent überfüllt. Und auch die Folgen sind vergleichbar.
Einmal entstandene Häftlings-Gangs aufzulösen, sei schier unmöglich, sagt Politologin Nunes Dias. Am besten, Gesellschaft und Staat entziehe ihnen die Rekruten - einerseits durch die Bekämpfung von Armut, die Kriminalität begünstigt, andererseits durch Reformen in der Justiz.