Geheimdienst-Desaster in Afghanistan
18. August 2021Der Bundesnachrichtendienst (BND) ist der zivile und militärische Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland. "Er hat den Auftrag, Informationen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung zu sammeln, auszuwerten und der Bundesregierung in Form von Meldungen und Analysen zur Verfügung zu stellen." So steht es auf der Homepage des Geheimdienstes, der sich als Frühwarnsystem für die Politik versteht.
Gemessen an seinem Selbstverständnis hat der BND in Afghanistan eine dramatische Niederlage erlitten. Und er hat die Bundesregierung in Erklärungsnot gebracht. Denn noch im Juni hielt es Außenminister Heiko Maas im Deutschen Bundestag für ausgeschlossen, "dass die Taliban in wenigen Wochen das Zepter in der Hand haben". Seine Prognose, so darf und muss man annehmen, basierte auch und wohl wesentlich auf Informationen des Bundesnachrichtendienstes.
Gefährdung der Bundeswehr und der Botschaft unterschätzt
Regelmäßig wird die Bundesregierung vom BND, dem für das Inland zuständigen Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) über die allgemeine Sicherheitslage informiert. Diese sogenannten Lagebilder sind vor allem für Bundeswehr-Soldaten in Auslandseinsätzen und das Personal deutscher Botschaften einschließlich einheimischer Ortskräfte wichtig.
Dass sie alle in Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen so schnell in höchste Gefahr geraten könnten, haben die Nachrichtendienste des Bundes, allen voran der BND, offenkundig komplett übersehen. Dafür sprechen die hektischen Rettungs- und Evakuierungsmaßnahmen am Flughafen in Kabul. "Es gibt nichts zu beschönigen", räumt Außenminister Maas ein. Sowohl der Sozialdemokrat als auch die christdemokratische Bundeskanzlerin Angela Merkel müssen sich jetzt kritische Fragen gefallen lassen. Das gilt auch für den BND.
Mutmaßungen eines ehemaligen BND-Mitarbeiters
Der SPD-Abgeordnete Uli Grötsch fordert gegenüber der DW eine unverzüglich einzuberufende Sondersitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste, dem er selbst angehört. "Die Bundesregierung, die Nachrichtendienste und auch unsere internationalen Partner haben die Situation im Umfeld des Truppenabzuges falsch eingeschätzt." Das sei auch bitter angesichts des jahrelangen internationalen Engagements der Bundeswehr in Afghanistan.
Grötsch erwartet eine "gründliche Aufarbeitung und Analyse der Lageeinschätzung". Er stelle sich die Frage, ob diese Dynamik beziehungsweise die Eskalation und die rasante Machtergreifung der Taliban vorhersehbar gewesen sei. Der ehemalige BND-Mitarbeiter Gerhard Conrad hat darauf schon kurz nach der Machtübernahme der Taliban im ARD-Fernsehen eine Antwort gegeben: Geheimdienste müssten mit vielen Kräften vor Ort sein, was in Afghanistan bekanntermaßen nicht mehr der Fall gewesen sei.
"Sie müssen die Bewegungen des Gegners, der Taliban, kennen. Sie müssen auch die Kräfte, die Absichten der Regierungsseite kennen." Beides werde nicht in ausreichendem Umfang der Fall gewesen sein, vermutet der frühere BND-Mann. Wenn eine Seite den Eindruck habe, "dass sie durchmarschieren kann", dann werde sie es aller Wahrscheinlichkeit nach tun. "Jedenfalls muss man sich darauf einstellen."
Conrads früherer Arbeitgeber, so scheint es, hat genau das versäumt. So sieht es auch der Linken-Politiker André Hahn. Er ist wie Uli Grötsch parlamentarischer Geheimdienst-Kontrolleur und wirft dem BND auf DW-Nachfrage totales Versagen vor. Der habe keine Ahnung davon gehabt, wie schnell die Taliban nach dem Truppenabzug die Macht in Kabul übernehmen würden. "Man hat sich beim BND wohl vollständig auf die Informationen der US-Dienste verlassen." Die aber hätten die dramatischen Entwicklungen auch nicht gesehen und nach dem Rückzug der Amerikaner gar nichts mehr liefern können.
"Wofür braucht man einen solchen Auslandsgeheimdienst?"
"Eigene Erkenntnisse des BND - absolute Fehlanzeige!", empört sich Hahn. Da stelle sich dann schon die Frage: "Wofür braucht man einen solchen Auslandsgeheimdienst?" Derweil berichtet die "New York Times" unter Berufung auf nicht näher genannte Insider, amerikanische Geheimdienste hätten bereits im Juli vor einem raschen Sieg der Taliban gewarnt. Eine offizielle Bestätigung von Seiten der US-Regierung gibt es dafür allerdings nicht.
Warum es den Taliban im Eiltempo gelungen ist, die Macht an sich reißen, fragt sich auch der Afghanistan-Experte Jan Koehler. Seine Expertise war schon mehrmals in Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag gefragt. Nun sagt der in London und an der Universität Oldenburg in Niedersachsen forschende Wissenschaftler im DW-Gespräch: "Auch gut vernetzte afghanische Organisationen und seit Jahrzehnten vor Ort tätige Entwicklungsorganisationen sind vom schnellen Sieg der Taliban massiv überrascht und überrumpelt worden."
"Afghanen kämpfen nicht für Verlierer"
Dennoch hat Koehler, der Afghanistan seit 2003 regelmäßig bereist, eine mögliche Erklärung für den "plötzlichen Regime-Tod" der Regierung des ins Ausland geflüchteten Präsidenten Ashraf Ghani. In den Wochen zuvor habe es nämlich auch Stimmen gegeben, die vor einem schnellen Zusammenbruch der Moral gewarnt hätten. Offenkundig habe das fehlende Vertrauen der afghanischen Sicherheitskräfte in die eigene Regierung dazu geführt, die Waffen niederzulegen. Als Phänomen könne man so etwas zwar vorhersagen, aber die Geschwindigkeit sei jetzt "besonders dramatisch" gewesen.
Afghanistan-Experte Koehler wundert sich also nicht über das Verhalten der Soldaten und Polizisten, die den Taliban das Feld weitgehend kampflos überlassen haben: "Afghanen kämpfen nicht für Verlierer." Als solche haben sich die Truppen anscheinend selbst gesehen, vermutet Koehler und erklärt sich das mit dem schlechten Image der Zentralregierung in Kabul. Man habe ihr nicht zugetraut, in der Lage zu sein, "diesen Krieg um die Staatlichkeit und die Art des Staates ohne Anwesenheit vor allem der Amerikaner tatsächlich zu bestehen".
Trotz der vielen Fehler, die auch Afghanistan-Kenner Koehler der Regierung in Kabul anlastet, betont er, sie sei nicht "verhasst oder gefürchtet" gewesen. Misstrauen habe es viel gegeben "und Zweifel an der Redlichkeit". In Teilen der Bevölkerung habe es sicherlich Fragen der "islamischen Legitimität" gegeben. Aber viele Afghanen, auch in ländlichen Regionen, hätten die Regierung "gerne als nachhaltige Lösung" gesehen.
Wenig Spielraum für Bundesregierung und Bundeswehr
Ob die Bundesregierung, basierend auf Einschätzungen auch ihrer Nachrichtendienste, naiv gehandelt hat, vermag Koehler nicht zu beurteilen. "Aber ich glaube nicht, dass die Bundesregierung und die Bundeswehr da besonders viel Handlungsspielraum hatten". Das seien Dinge, die in Washington auf den Weg gebracht worden seien. Koehler erinnert in diesem Zusammenhang an die Entscheidung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, an der afghanischen Regierung vorbei direkt mit den Taliban über einen Abzug zu verhandeln.
"Die Taliban haben das sicherlich als Kapitulation wahrgenommen", ist der Afghanistan-Kenner von der Wirkung dieses Signals überzeugt. Und der Abzug sei unter Trumps Nachfolger Joe Biden beschleunigt worden. Koehler schließt aus, dass die Verbündeten der USA, darunter Deutschland, irgendein Mitsprachrecht hatten. "Damit war der Takt vorgegeben", sagt er mit Blick auf das hohe Tempo des Truppenabzugs.
Für Angela Merkel könnte es ein Nachspiel geben
Für den BND und das ihn beaufsichtigende Kanzleramt hat die Fehler-Analyse gerade erst begonnen. Die Aufarbeitung wird mit Sicherheit auch den nach der Bundestagswahl am 26. September neu zusammengesetzten Bundestag beschäftigen. Vielleicht in Form eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses.
Sollte es dazu kommen, müsste sich auch Angela Merkel darauf einstellen, als Zeugin geladen zu werden. Nach ihrem schon lange bekannten Verzicht auf eine erneute Kandidatur würde sie dann jedoch nicht mehr als Bundeskanzlerin erscheinen. Allerdings müsste sie für das Versagen der Geheimdienste in Afghanistan während ihrer Amtszeit die politische Verantwortung übernehmen. Denn der BND fällt in die Zuständigkeit des Kanzleramts und die noch amtierende Chefin verfügt über die sogenannte Richtlinienkompetenz für die ganze Bundesregierung.