Wie groß ist der Gender Pay Gap wirklich?
8. März 2019Stellen Sie sich das folgende Szenario an Ihrem Arbeitsplatz vor: Ein Mann und eine Frau sitzen sich im Büro gegenüber und machen die gleiche Arbeit. Der Mann aber bekommt mehr Geld dafür als seine Kollegin - und zwar gleich ein Fünftel! Das wäre ungefähr so, als wenn die Frau die ersten Monate unentgeltlich arbeitete und erst ab Mitte März auch dafür bezahlt würde.
Dieses Szenario ist natürlich fiktiv. Die "freien" Arbeitstage zu Beginn eines Jahres stellen die Lohnlücke in Deutschland dar. Mit 21 Prozent ist sie die zweitgrößte Gender Pay Gap in der Europäischen Union.
Vom Zweitschlimmsten zum Zweitbesten
Allerdings unterscheidet sich die Lücke stark, je nachdem, wie es gemessen wird. Berücksichtigt man nämlich Faktoren wie Bildung, Berufserfahrung, Unternehmensgröße und Branche, so beträgt die Lohnlücke in Deutschland nur noch sechs Prozent. Das nennt sich "bereinigte Lohnlücke." Mit dieser Kennzahl liegt Deutschland fast an der Tabellenspitze, an zweiter Stelle.
Diese Ergebnisse wurden in einem Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vorgestellt. Der Bericht basiert sich auf Daten der EU-Kommission und von Eurostat, die die bereinigte und unbereinigte Entgeltlücke in den Jahren 2010 und 2014 vergleichen.
Die gute Nachricht ist: die Daten zeigen auch, dass sowohl das unbereinigte als auch die bereinigte Entgeltlücke in der EU mit 1,1 Prozent bzw. 1,4 Prozent abnimmt.
Wird die Ungleichheit erklärt oder versteckt?
Die Summe aller Faktoren, die die Lohnlücke beeinflussen und deren Gründe angegeben werden können, nennt sich "erklärte Differenz." Deutschland hat die größte erklärte Differenz in der EU. Dem Bericht zufolge lassen sich 72 Prozent der Entgeltlücke in Deutschland durch die verschiedenen oben genannten Kriterien rechtfertigen und erklären.
Die bereinigte Lohnlücke sei nicht nur eine Zahl, die Deutschland besser aussehen lässt, sagt Jörg Schmidt, Ökonom vom Institut der deutschen Wirtschaft und Autor des Berichts. Ein genauerer Blick auf die Faktoren hinter den Berechnungen kann einen Einblick in die Situation geben und helfen, politische Ansatzpunkte zu finden.
"Für mich sind das Hinweise, wo man ansetzen könnte, wenn jetzt die Politik über Handlungsoptionen nachdenken würde", sagte Schmidt. "Wenn man etwa berücksichtigt, dass Frauen und Männer sich unterschiedlich über die Branchen verteilen, erklärt dies zu einem gewissen Teil auch den durchschnittlichen Lohnunterschied von Frauen und Männern ."
Für Yvonne Lott von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ist die bereinigte Lohnlücke ein eher irreführender Indikator. "Das Problem mit diesem Indikator ist, dass man die Dimensionen der Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt in gewisser Weise ignoriert", meint sie.
"Sie können eine Studie durchführen, um die Gründe zu unterstreichen, aber zu dem Schluss kommen, dass der Gender Pay Gap nur sechs Prozent beträgt, weil alles andere erklären sein könnte? Das ist für mich kein richtiges Ergebnis."
Sechs Prozent Diskriminierung?
"Wenn man wirklich darüber nachdenkt, was es bedeutet, ist es immer noch eine Menge", sagt Lott. "Diese sechs Prozent sind wirklich nur darauf zurückzuführen, dass die Arbeitgeber bei der Betrachtung der Arbeitnehmer sagen, dass Frauen weniger bekommen, weil sie Frauen sind, und Männer mehr bekommen, weil sie Männer sind".
Die Autoren der Studie der EU-Kommission, aus der die Originaldaten über die bereinigte Lohnlücke stammen, sagen jedoch, dass "die bereinigte Lücke nicht mit Diskriminierung gleichgesetzt werden darf, da die Studie auch ungemessene lohnrelevante geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigt, wie etwa tatsächliche Berufserfahrung, Berufspräferenzen oder Verhandlungskompetenz".
Auf die EU-Ebene
Während in Deutschland die Lohnunterschiede bei "bereinigter" Betrachtung geringer werden, ist die Situation in anderen EU-Ländern ganz anders. In Rumänien, Polen und Litauen ist die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern noch drastischer. In diesen Ländern können Frauen die Lohnungleichheit nicht dadurch ausgleichen, dass sie zum Beispiel eine gute Ausbildung ins Feld führen. Im Gegenteil: Auch wenn eine Frau sogar mehrere Universitätsabschlüsse hat, wird sie immer noch weniger verdienen als ein Mann.
Nicht nur die Größe der erklärten Lücke ist wichtig, sondern auch die Faktoren, die dazu beitragen, argumentiert Schmidt. Dem Bericht zufolge, tragen drei Hauptaspekte zu ungleicher Bezahlung in Deutschland bei. Das sind die ungleiche Verteilung von Männern und Frauen in verschiedenen Industriebranchen, die Frage der Teilzeitbeschäftigung und schließlich die Berufserfahrung.
Wie die Studien zeigen, ist ungleiche Verteilung von Männern und Frauen in verschiedenen Industriebranchen in allen EU-Ländern ein Problem. In Rumänien, Ungarn und Polen spielen die Aspekte wie Bildung und Beruf eine große Rolle. In Estland, Lettland und Litauen hat die Größe des Unternehmens auch Auswirkungen auf die Lohnlücke.
"Da die Voraussetzungen in den Ländern sehr unterschiedlich sind, kann man nicht allen Staaten eine pauschale Empfehlung geben", sagt Schmidt. Der Bericht kritisierte auch die Pläne der EU-Kommission, konkrete Maßnahmen zur Lohntransparenz auf EU-Ebene einzuführen.