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"Scharfsinnig, fähig, mit Ego"

Michael Knigge17. April 2016

Der verstorbene deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher spielte eine tragende Rolle für die deutsche Einheit und Westbindung. Er war glaubwürdig und verlässlich, so der frühere US-Diplomat Philip Zelikow zur DW.

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Hans-Dietrich Genscher (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images/M. Divizna

Deutsche Welle: Sie haben im Weißen Haus Ende der 1980er Jahre an der deutschen Einheit mitgearbeitet. Darüber haben Sie ein Buch mit Condoleezza Rice geschrieben. Welche Rolle spielte Hans-Dietrich Genscher als damaliger Außenminister beim Prozess der deutschen Einheit?

Philip Zelikow: Er war einer der zentralen Akteure, der ein extrem kompliziertes Geflecht diplomatischer Verhandlungen managte, um die deutsche Einheit friedlich herbeizuführen. Natürlich tat er das partnerschaftlich mit Bundeskanzler Helmut Kohl. Seine Rolle war, die Verhandlungen mit den Russen zu führen, mit den Verbündeten und dann die Rüstungskontrollgespräche. Er war auch zuständig für die Zusammenarbeit mit anderen in Europa, die (wegen der deutschen Einheitspläne, Anm. d Red.) besorgt waren, wie die Polen. Und er musste diese ganzen unterschiedlichen Interessen gemeinsam mit anderen unter einen Hut bringen.

Genscher spielte in dieser Zeit eine wirklich historische Rolle dabei, eine Art politische Mitte in der deutschen Politik zu verankern. Die Deutschen sind sich dessen sehr bewusst. Historiker werden die Rolle Genschers nie vergessen, die er beim Machtwechsel von den Sozialdemokraten zu den Christdemokraten 1982 und 1983 spielte und während der großen Debatte um den NATO-Doppelbeschluss. Genscher spielte auch eine zentrale Rolle darin, dass Deutschland eng mit der NATO verbunden blieb. Er stand aber auch für die liberalen Wirtschaftsprinzipien, die die FDP seit langem verkörperte.

Genscher war bemüht, die Differenzen zwischen Ost und West zu überbrücken. Als Flüchtling aus Ostdeutschland verfügte er über eine besondere Sensibilität und versuchte, andere zu verstehen. Er hatte großes Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten und genoss die Wertschätzung aller Außenminister, die mit ihm zusammenarbeiteten.

Philip Zelikow (Foto: privat)
US-Diplomat und Historiker Philip ZelikowBild: privat

Manchmal verärgerte er US-amerikanische Diplomaten. Aber während der deutschen Vereinigung arbeitete er sehr freundschaftlich und partnerschaftlich mit dem äußerst fähigen US-Außenminister James Baker zusammen. Die Baker-Genscher-Kombination und die Kombination ihrer Mitarbeiter - wie Bob Zoellick, Frank Elbe und Dieter Kastrup - waren das Herzstück der diplomatischen Maschinerie, die die Vereinigung so hervorragend meisterte.

Wie ärgerte Genscher denn manchmal US-amerikanische Diplomaten?

Die USA führten manchmal Gespräche zu Rüstungskontrollthemen oder über andere Anliegen und wollten, dass die Westdeutschen der US- und NATO-Linie folgten. Genscher folgte jedoch ungern den Vorgaben von anderen. Und manchmal, besonders in den 1980er Jahren der Reagan-Präsidentschaft, war das für die Amerikaner frustrierend. Sie waren der Ansicht, dass er den sowjetischen Interessen zu weit entgegenkam und nicht genügend Solidarität mit den Partnern zeigte. Aufmerksame US-Amerikaner wussten jedoch, dass Genscher in den allerschwierigsten Momenten und bei den schwierigsten Fragen ein verlässlicher Partner war, genau wie Westdeutschland als ganzes. Ich habe ja das Beispiel des NATO-Doppelbeschlusses erwähnt, aber es gab auch andere während des Vereinigungsprozesses.

Aus meiner eigenen Arbeit kenne ich zahlreiche Beispiele, wo die Amerikaner Ideen vorschlugen, die Genscher nicht mochte, aber umgekehrt schlug Genscher auch Ideen vor, die die Amerikaner nicht mochten. Aber sie hörten einander zu. Und manchmal zog Genscher auch Ideen zurück, obwohl er sie schon öffentlich gemacht hatte, weil er von den Argumenten seiner Partner überzeugt worden war.

Sie haben die Rolle erwähnt, die Genschers Biografie und die Tatsache, dass er aus Ostdeutschland stammte, für ihn als Außenminister spielte. Können Sie das noch ausführen?

Ich glaube, es verschaffte ihm Glaubwürdigkeit als eine Person, die leidenschaftlich an die westlichen Werte glaubte. Aber es gab ihm auch Glaubwürdigkeit als jemand, der sich emotional in die Menschen hineinversetzen konnte, die durch den Kalten Krieg gefangen waren. Von daher kam auch sein Wunsch, die Differenzen des Kalten Krieges zu überbrücken und diesen Konflikt menschlicher zu machen.

Was ist Genschers Vermächtnis?

Er wird als jemand in Erinnerung bleiben, der ein sehr fähiger Diplomat war und versuchte, die Differenzen zwischen Ost und West zu überbrücken. Er wird in Deutschland als jemand in Erinnerung bleiben, der eine durch und durch deutsche Persönlichkeit war - scharfsinnig, fähig, mit etwas Ego, aber auch mit einer großen Sorgfalt für seinen Beruf und einer großen Empfindsamkeit für die Grundwerte, die Deutschland seiner Meinung nach repräsentieren sollte.

Philip Zelikow ist Professor für Geschichte an der Universität von Virginia. Unter Präsident George Bush senior arbeitete er als Diplomat im Weißen Haus am deutschen Einheitsprozess mit. Gemeinsam mit Condoleezza Rice veröffentlichte er das Buch "Germany Unified and Europe Transformed: A Study in Statecraft" ("Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas"). Später leitete Zelikow die 9/11-Kommission zur Untersuchung der Anschläge vom 11. September 2001 und war einer der wichtigsten Berater von US-Außenministerin Rice.

Das Interview führte Michael Knigge.