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Schock-Therapie auf Lampedusa

Bernd Riegert9. Oktober 2013

Nach der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa kommt Bewegung in die europäische Flüchtlingsdebatte. Die EU-Kommission sucht neue Wege. Der EU-Gipfel wird beraten. Einsichten nach einem Besuch auf Lampedusa.

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Jose Barroso auf Lampedusa, Foto: EPA/FRANCO LANNINO
Bild: picture-alliance/dpa

Als er mit großer Verspätung zur Pressekonferenz kam, war der EU-Kommissionspräsident erschüttert. Jose Barroso hatte gemeinsam mit dem italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta den Flugzeughangar auf Lampedusa besucht. Dort sind fast 300 Särge mit den sterblichen Überresten der Opfer des Schiffsuntergangs von letzter Woche aufgestellt. "Den Anblick von Hunderten von Särgen werde ich nie mehr aus dem Kopf bekommen. Das kann man nicht vergessen. Särge mit Säuglingen. Särge mit Müttern und ihren gerade neu geborenen Kindern. Das hat mich tief geschockt und sehr traurig gemacht", sagte Barroso. Zuvor hatte er Rosen auf den Särgen verteilt, während Enrico Letta niederkniete. Betroffen war Barroso wohl auch von den Protesten wütender Demonstranten, die die europäische Delegation mit Rufen wie "Mörder" oder "Schande" empfingen. Im völlig überfüllten Flüchtlingslager sprach Barroso mit einigen der 155 Überlebenden der Schiffskatastrophe. Er habe einen 15-jährigen Jungen aus Eritrea getroffen und in seinen Augen auch ein wenig Hoffnung gesehen, berichtete Barroso. Diese Hoffnung, so der EU-Kommissionspräsident, wolle er nicht enttäuschen. "Das hier mit eigenen Augen zu sehen, ist natürlich etwas ganz anderes als die Fernsehbilder oder nur die Akten zu sehen", sagte Barroso während seiner Pressekonferenz.

Särge aufgereiht im Flugzeughangar Lampedusa; Foto: REUTERS/Antonio Parrinello (ITALY - Tags: DISASTER)
Horror im Flugzeug-Hangar: Särge der ertrunkenen FlüchtlingeBild: Reuters

Mehr europäisches Geld für Italien zugesagt

Die Forderungen des konservativen Innenministers Italiens, Angelino Alfano, nach mehr europäischen Hilfen und der schlechte Zustand des Auffanglagers auf der kleinen Insel Lampedusa überzeugten Jose Barroso offenbar spontan. "Die EU-Kommission ist bereit, 30 Millionen Euro noch im Jahr 2013 zur Verfügung zu stellen. Wir werden eng mit den Behörden hier zusammenarbeiten, um die Lage der Flüchtlinge in Italien zu verbessern", versprach Barroso. Allerdings erhält Italien genau wie viele andere EU-Staaten bereits seit Jahren aus mehreren Töpfen Beihilfen in Millionenhöhe, die sowohl für die bessere Unterbringung der Flüchtlinge als auch für eine bessere Küstenwache vorgesehen waren. Auf kritische Fragen italienischer Journalisten zur italienischen und europäischen Flüchtlingspolitik ging die mitgereiste EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström ein. Sie gab zu, dass die Flüchtlingsheime in Italien in vielen Fällen unzureichend seien und dass die Anerkennung von Asylanträgen eher einer großen Lotterie als einem geordneten Verfahren gleiche. Das solle aber alles mit dem einheitlichen Asylverfahren besser werden, das die EU im Sommer verabschiedet hat und das jetzt nach und nach in nationales Recht umgesetzt wird.

Keine Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen in Europa

Der italienische Regierungschef Enrico Letta beschwor mit dramatischen Worten die europäische Dimension der Tragödie von Lampedusa. Italien wolle die Flüchtlingspolitik, Asyl und Einwanderung zu seinen politischen Schwerpunkten im Jahr 2014 machen. Bereits in zwei Wochen solle sich der regelmäßige Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU mit dem Thema befassen. "Wir werden überrollt von einem neuen Exodus aus Nordafrika und der arabischen Welt. Dabei geht es nicht um eine Auswanderung nur wegen wirtschaftlicher Gründe. Heute stehen wir vielen humanitären Fluchtgründen und Asylfragen gegenüber", sagte Enrico Letta. Das sei eine Herausforderung nicht nur für die nationalen Behörden, sondern auch für die europäischen, die eine Antwort finden müssten. Eine Antwort muss auch die tief zerstrittene Regierungskoalition aus Sozialdemokraten und Konservativen in Italien finden. Während sich der linke Enrico Letta eine Aufhebung restriktiver Flüchtlingsgesetze vorstellen kann, beharrt die rechte Berlusconi-Partei auf einem harten Kurs.

Enrico Letta mit Militärangehörigen auf Lampedusa, Foto: EPA/FRANCO LANNINO
Italiens Ministerpräsident Letta will Hilfe aus EuropaBild: picture-alliance/dpa

Forderungen aus Italien, Griechenland, Spanien und Malta, die ankommenden Flüchtlinge oder Einwanderer per Quote auf alle übrigen EU-Staaten zu verteilten, erteilte Innenkommissarin Cecilia Malmström eine klare Absage: "Dafür gibt es überhaupt keinen politischen Konsens. Aussichtslos." Bereits heute nehmen fünf EU-Staaten, darunter Deutschland, 70 Prozent der jährlich 320.000 Asylbewerber auf. Italien verzeichnet übrigens vergleichsweise weniger Asylanträge als Deutschland. Die meisten Asylbewerber reisen nämlich nicht übers Mittelmeer, sondern per Flugzeug in die EU. Laut der europäischen Grenzschutzagentur Frontex kommen diese Menschen mit einem Touristenvisum und stellen nach dessen Ablauf einen Asylantrag. Die meisten Asylbewerber kommen so aus Afghanistan, Pakistan und Russland in die EU.

"Mehr legale Einwanderung, Asylanträge außerhalb der EU stellen"

Die schwedische EU-Kommissarin Cecilia Malmström machte sich stattdessen Forderungen zu eigen, die auch Flüchtlingsorganisationen wie der Italienische Flüchtingsrat schon lange erheben. "Wir müssen mehr legale Einwanderung zulassen. Legale Wege nach Europa würden dazu führen, dass sich weniger Menschen Schlepperbanden anvertrauen", sagte Malmström auf Lampedusa. Über die legale Migration für Menschen, die kein politisches Asyl, sondern Arbeit suchen, entscheiden allerdings die EU-Mitgliedsstaaten alleine. Jedes Land hat sein eigenes System. Cecilia Malmström verlangt wie der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, dass die EU-Mitgliedsstaaten mehr anerkannte Flüchtlinge nach der Genfer Konvention, so genannte "Kontingent-Flüchtlinge", aufnehmen. "Ich rufe alle Mitgliedsstaaten auf, mehr Flüchtlinge anzusiedeln, die von den Vereinten Nationen in Konfliktregionen ausgesucht werden, um sie sicher nach Europa zu bringen. Wir müssen andere Möglichkeiten prüfen, zum Beispiel die Vergabe von humanitären Visa oder die Bearbeitung von Asylanträgen außerhalb der Europäischen Union."

Nach europäischem Recht ist es bereits heute möglich, die legale Einreise in die "Schengen-Region" aus humanitären Gründen zu gestatten. Davon wird aber nach Überzeugung von Kommissarin Malmström zu wenig Gebrauch gemacht. Sie setzt sich außerdem dafür ein, mit Drittstaaten und Herkunftsländern darüber zu verhandeln, ob Asylanträge für Europa nicht schon dort gestellt und bearbeitet werden können. Dann könnten sich Asylbewerber die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer oder den beschwerlichen Weg über Griechenland, Bulgarien oder Ungarn sparen.

Tor zu Europa: Denkmal von Mimmo Paladino auf Lampedusa; Foto: Eric Vandeville/ABACAPRESS.COM
Tor zu Europa: Denkmal von Mimmo Paladino auf LampedusaBild: picture alliance/abaca

"Wir brauchen keine Arbeitsgruppe"

Parallel zum Besuch der europäischen Delegation auf Lampedusa debattierte das Europäische Parlament in Straßburg die Lage. Dort forderte selbst der konservative deutsche CSU-Abgeordnete Manfred Weber größeres Engagement auch der deutschen Bundesregierung: "Wir brauchen die klare Aussage von Mitgliedsstaaten in Europa, dass sie Kontingente von Flüchtlingen vom UNHCR übernehmen. Die Auswahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, steht dem UNHCR zu." Der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Hannes Swoboda, kritisierte, dass die EU-Innenminister bei ihrem Treffen am Dienstag in Luxemburg keinerlei Bewegung gezeigt hätten. "Es gibt eine große Bandbreite in Europa. Einige Länder erfüllen ihre Aufgaben, andere tun das nicht. Deshalb war ich von den Innenministern sehr enttäuscht. Eine neue Arbeitsgruppe! Wir brauchen keine Arbeitsgruppe, sondern Handeln. Wir wissen doch, was zu tun ist", empörte sich Swoboda. Die Innenminister wollen in einer Arbeitsgruppe weitere Schritte prüfen. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hatte erklärt, Deutschland tue bereits genug bei der Flüchtlingshilfe.