Giftwolken und Explosionen in Tianjin
15. August 2015Das Hafengelände in Tianjin bleibt ein Katastrophengebiet: Immer wieder entzündeten sich Feuer, eine ganze Reihe von neuen Explosionen hüllte den Hafen in schwarzen Rauch. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua wurden mindestens 20 Feuerwehrwagen in das Sperrgebiet geschickt, speziell für die Bekämpfung von Chemiewaffen ausgebildete Soldaten sind ebenfalls im Einsatz.
Giftige Gase in der Luft
Aus Angst vor giftigen Gasen riefen die Behörden zur Evakuierung des Hafengeländes in einem Umkreis von drei Kilometern auf. Am Rande der Evakuierungszone teilten Rettungskräfte und Polizei Schutzmasken an die Bevölkerung aus. Obdachlos gewordene Anwohner der Gefahrenzone, die zunächst in einer Schule Unterkunft gefunden hatten, mussten diese wieder verlassen, da sich der Wind gedreht hatte, hieß es.
Die Behörden hatten zuvor mehrfach versichert, dass die Belastung der Luft mit toxischen Gasen unterhalb der gesundheitsgefährdenden Schwelle liege. Nur einzelne Stoffe hätten die Grenzwerte überschritten.
Zahl der Todesopfer steigt auf 104
Dann aber wurde bekannt, dass sich in dem am Mittwoch explodierten Gefahrengutlager auch die hochgiftige Chemikalie Natriumcyanid befand. Nach einem Bericht der Zeitung "Xinjingbao", den die Zensur mittlerweile gelöscht hat, sollen es allein 700 Tonnen Natriumcyanid gewesen sein. Einem Zeitungsbericht zufolge wurde die giftige Chemikalie auch in Abwasserproben in der Gegend nachgewiesen. Der China News Service berichtete, es seien auch Tanks mit den leichtentzündlichen Flüssigkeiten Methanol oder Ethanol explodiert.
Durch die gew altigen Explosionen, kamen nach neuen Angaben 104 Menschen ums Leben. Am dritten Tag nach dem Unglück hätten Rettungsteams nur 50 Meter vom ursprünglichen Explosionsort einen Mann noch lebend aus den Trümmern gerettet, berichtete Xinhua. Er habe Brandverletzungen erlitten, sei aber in stabilem Zustand. Damit liegen 722 Verletzte in Krankenhäusern. Darunter seien 58 Schwerverletzte, davon 33 in einem ernsten Zustand. Unter den Toten sind laut Behördenangaben 21 Feuerwehrleute.
Zensur in sozialen Netzwerken
Aufgebrachte Angehörige von Opfern und Anwohner protestierten am Samstag am Rande einer Pressekonferenz. Sie warfen den Behörden mangelnde Transparenz und fehlende Informationen vor. "Niemand hat uns etwas gesagt", schrie eine Frau, die dann von Sicherheitskräften weggebracht wurde. Mehr als 360 Online-Konten von Nutzern sozialer Netzwerke wurden laut Xinhua geschlossen, weil sie "Gerüchte" über das Unglück verbreitet hätten. So seien "unverantwortliche" Kommentare ins Netz gestellt worden, in denen die Explosionen mit dem US-Atombomben-Abwurf über Japan im Zweiten Weltkrieg verglichen worden seien.
Unzureichend ausgebildete Feuerwehrkräfte?
Unklar war nach wie vor, ob nicht die Feuerwehr die verheerende Explosion auslöste, als sie einen anfänglichen Brand mit Wasser löschte. Dieses kann bei dem hochgiftigen Natriumcyanid eine explosive chemische Reaktion auslösen. Die Feuerwehrleute waren möglicherweise zu dem Einsatz in dem Gefahrgutlager gerufen worden, ohne zu wissen, was dort brannte oder gelagert war.
Nach Angaben des Feuerwehrchefs von Tianjin, Lei Jinde, waren in dem Lager auch Ammoniumnitrat und Kaliumnitrat. Die hohe Opferzahl löste Diskussionen aus, ob Feuerwehrleute für solche Situationen ausreichend ausgebildet sind.
"Mangendes Sicherheitsbewusstsein"
Als Reaktion auf die Katastrophe ordnete die Regierung landesweit Inspektionen bei Unternehmen an, die mit gefährlichen Chemikalien und Explosivstoffen umgehen. Das Unglück enthülle einen Mangel an Sicherheitsbewusstsein bei Unternehmen und eine laxe Umsetzung der Sicherheitsvorschriften, zitierte Xinhua die chinesische Kommission für Arbeitssicherheit. Die Behörden müssten den Umgang mit Gefahrgütern strenger kontrollieren, hieß es.
Das Chemikalienlager in Tianjin lag nur 500 bis 600 Meter von Wohnsiedlungen entfernt. Das Unglück ist ein schwerer Schlag für das Wirtschaftszentrum Tianjin, das ein wichtiger Umschlagplatz ist. Tausende Autos, darunter Volkswagen und Renault, wurden zerstört. Die Wolfsburger verlagerten ihre Neuwagen-Transporte nach dem Unglück nach Shanghai und Guangzhou, berichtete Xinhua. 40 Prozent aller importierten Autos kamen über den Hafen von Tianjin nach China.
cw/wl (dpa, afp, rtr)