Gipfel der Selbstblockade
21. Oktober 2016Krimi, Drama oder nur noch Farce? Die Wallonen, und damit weniger als ein Prozent der EU-Bürger, haben das Freihandelsabkommen mit Kanada, CETA, aufgehalten. Die ärgerliche Feststellung der litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite, die EU sei zur "Geisel nationaler Politik eines Landes" geworden, war da noch untertrieben. Denn in Wirklichkeit ging es nicht einmal um ein Land, sondern lediglich um die Zustimmung des Parlaments der belgischen Region Wallonien mit 3,5 Millionen Einwohnern. Alle 28 Regierungen der EU-Staaten sind für CETA.
Es geht bei den Wallonen um Bedenken, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards könnten ausgehöhlt werden. Mit dem Nein aus der Regionalhauptstadt Namur kann auch Belgien als Gesamtstaat nicht zustimmen. Selbst dem belgischen Ministerpräsidenten Charles Michel war die Blockade sichtlich peinlich. Der Liberale ist für CETA, doch Druck hätte den sozialistischen wallonischen Ministerpräsidenten Paul Magnette wohl noch störrischer gemacht, heißt es. Der Streit ist nicht nur Ausdruck des komplizierten belgischen Staatsaufbaus, sondern auch parteipolitisch bedingt.
Es geht um Europas Glaubwürdigkeit
Es bleiben noch wenige Tage. Am kommenden Donnerstag soll eigentlich Kanadas Premier Justin Trudeau zur Unterzeichnung nach Brüssel kommen. Bleibt es beim Nein der Wallonen, platzt das Abkommen.
Die kanadische Handelsministerin Chrystia Freeland sieht momentan keine Chance auf eine Lösung. "Es scheint offensichtlich, für mich und für Kanada, dass die Europäische Union derzeit nicht in der Lage ist, ein internationales Abkommen" selbst mit einem Land wie Kanada zu schließen, sagte Freeland in einem vom belgischen Sender VRT verbreiteten Video. Die Gespräche mit den Wallonen seien gescheitert, die Ministerin werde nun nach Kanada zurückkehren, sagte ihre Sprecherin der Agentur AFP. Die EU-Kommission beeilte sich zu versichern, dass der Stopp der Verhandlungen nicht das Ende für CETA sei.
Eigentlich werden Handelsfragen auf EU-Ebene und nicht auf nationaler Ebene gelöst. Doch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte sich im Juli breitschlagen lassen, die Tradition aufzugeben. Nicht nur das Europaparlament, sondern auch die nationalen Parlamente müssen demnach zustimmen. Dies sei "ein Fehler, den andere mich gezwungen haben zu tun", sagte Juncker dazu am Freitag. Bundeskanzlerin Angela Merkel glaubt aber, wäre allein die Kommission bei CETA zuständig gewesen, "hätten wir andere Schwierigkeiten."
Juncker hat bereits gewarnt: "Wenn wir nicht in der Lage sind, ein Handelsabkommen mit Kanada zu schließen, sehe ich nicht, wie wir Handelsabkommen mit anderen Teilen der Welt haben können." Damit ist in erster Linie das geplante Abkommen mit den USA, TTIP, gemeint. Doch es geht um noch grundsätzlichere Dinge. Viele sehen die Fähigkeit der EU in Gefahr, überhaupt als ernstzunehmende Einheit aufzutreten.
Afrikanische Staaten sollen Migranten abhalten
Das hatte sich auch beim Umgang mit Russland gezeigt. Die Staats- und Regierungschefs verurteilten die russischen Bombardierungen der syrischen Stadt Aleppo mit scharfen Worten. Am Ende rückten sie aber von einer Drohung mit weiteren Sanktionen ab und beließen es bei der abgeschwächten Formulierung, sie behielten sich eine Reaktion mit "allen verfügbaren Optionen" vor. Aus wirtschaftlichen Gründen wollen einige Länder lieber wieder auf Russland zugehen, im Falle des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban auch aus ideologischer Nähe zu Präsident Wladimir Putin. Merkel ließ durchblicken, dass ihr eine schärfere Formulierung lieber gewesen wäre.
Viel Einigkeit herrschte dagegen beim Thema Migration, genauer gesagt, wie man die ungewollte Migration aus Afrika über das Mittelmeer verhindert. Die EU will Abkommen mit verschiedenen afrikanischen Ländern schließen. Ziel ist, einerseits diese Länder weiterzuentwickeln, damit weniger Menschen einen Grund haben, ihr Glück in Europa zu suchen. Andererseits sollen die Regierungen dieser Länder Migranten von der Reise nach Europa abhalten und solche, die aus Europa abgeschoben werden sollen, zurücknehmen. Zahlreiche EU-Vertreter bestreiten einen Zusammenhang zwischen Entwicklungshilfe auf der einen und Zurückhaltung von Migranten auf der anderen Seite, doch genau darauf läuft es hinaus.
May lässt die EU zappeln
Und dann gibt es ja noch die Brexit-Entscheidung der Briten. Obwohl das Referendum von Ende Juni die EU aufgewühlt hat wie vielleicht kein anderes Ereignis zuvor, hat sich eine merkwürdige Stille auf das Thema gelegt. Die übrige EU wartet ab, bis die Briten den Austrittsartikel 50 der EU-Verfassung auslösen. Premierministerin Theresa May jedenfalls spannte bei ihrem ersten EU-Gipfel als Regierungschefin ihre Kollegen noch ein wenig auf die Folter und lässt Zeitplan und Ausgestaltung der Loslösung im Vagen.
Bis es soweit ist, verweigert die EU aber Verhandlung über die künftigen Beziehungen, stellte Ratspräsident Tusk klar. May ist bewusst, dass es bei den Verhandlungen noch "einige schwierige Augenblicke" geben wird. Aber sie hat versprochen, das Vereinigte Königreich werde eine konstruktive und uneingeschränkte Rolle spielen, solange das Land noch EU-Mitglied sei - und das dürfte noch mehrere Jahre dauern - und auch danach ein enger Partner sein.
Für May war der Gipfel nicht unbedingt ein Besuch in der Höhle des Löwen, wie es in einigen Medienberichten hieß. Einzig der französische Präsident Francois Hollande 'brüllte': "Wenn Theresa May einen harten Brexit will, wird sie harte Verhandlungen bekommen." Und einen ganz besonderen Seitenhieb teilt offenbar ein anderer Franzose aus: Michel Barnier, der EU-Chefunterhändler für die Brexit-Verhandlungen, sickerte es am Freitag durch, wolle die Gespräche auf französisch führen. Mays Sprecher wollte das nicht kommentieren, solange keine formelle Anfrage vorliege.