Der Fall Gisèle Pélicot in Frankreich – ein #metoo-Moment?
16. Oktober 2024In den Straßen des südfranzösischen Avignons hängen Banner der Unterstützung für Gisèle Pélicot. Mehrere Male haben landesweit Frauen demonstriert, um sich mit Pélicot solidarisch zu zeigen. Und wenn die 72-Jährige morgens zum Verhandlungssaal läuft, warten Dutzende Frauen davor und applaudieren ihr. Denn Pélicot ist zu einem Symbol des Mutes und der Würde geworden. Sie hat 51 Männer verklagt, die sie unter Drogen vergewaltigt haben sollen. Für dieses Verbrechen gibt es einen Namen: "chemische Unterwerfung".
Einer der Angeklagten ist ihr Ehemann Dominique. Er hat zugegeben, ihr über ein Jahrzehnt hinweg immer wieder Drogen verabreicht und sie vergewaltigt zu haben. Außerdem hat er über eine Online-Plattform seine Frau angeboten und über 80 Männer sich an ihr vergehen lassen, während er die Vergewaltigungen filmte. Unter den Angeklagten sind Feuerwehrmänner, Elektriker oder auch Journalisten. Ein Prozess, der gesellschaftlichen Wandel anstoßen könnte – auch, weil Pélicot zugestimmt hat, dass er der Öffentlichkeit zugänglich ist - in Frankreich ist das bei Vergewaltigungsfällen eher außergewöhnlich.
Pelicot machen anderen Überlebenden Mut
So kann auch Justine die Verhandlung im Fall Pélicot von Paris aus mitverfolgen. Sie sagt, eine Bekannte habe ihr Ende 2021 Drogen verabreicht, sie gemeinsam mit einem Mann vergewaltigt und das Ganze gefilmt. Dann verlangte die Frau 20.000 Euro, um die Videos zu löschen. Als Justine sich weigerte zu zahlen, schickte die Bekannte die Videos an Nachbarn und Freunde. Justine hat bis heute Angst, ihren echten Namen zu nennen. Aber durch Pélicot hat sie neue Hoffnung geschöpft. "Gisèle ist eine Lichtgestalt, die eine dunkle Seite der Gesellschaft beleuchtet, welche manche lieber vertuschen wollen", sagt Justine zu DW. "Sie zeigt Stärke, indem sie ihre Stimme erhebt."
Justines Anwältin hat Anklage wegen Vergewaltigung vor Gericht erhoben, nachdem die Polizei sich geweigert hatte, die Anzeige überhaupt aufzunehmen. Doch eine Verhandlung gab es bisher nicht. "Die Vergewaltigung hat mich zerstört. Sie spielt sich jeden Tag erneut vor meinen Augen ab – ich gehe mit ihr zu Bett und Alpträume wecken mich in der Nacht auf", sagt sie. "Doch Gisèle hat mir den Mut gegeben, zurück zum Gericht zu gehen, welches meinen Fall auf Eis gelegt hatte. Ich werde nicht locker lassen, bis sie ihn bearbeiten."
Der Prozess in Frankreich hat grundlegende Fragen aufgeworfen: Feministinnen und Juristen diskutieren über toxische Männlichkeit und ob die Definition von Vergewaltigung neu gefasst werden sollte, und ob das explizite Einverständnis zur sexuellen Handlung in die Gesetzgebung aufgenommen werden muss. Derzeit gilt Vergewaltigung als gegeben, wenn die sexuelle Handlung "mit Gewalt, Zwang, Bedrohung oder Überrumpelung" erzwungen wurde.
Wie viele zu Vergewaltigungsfälle es unter "chemischer Unterwerfung" gibt, ist nicht bekannt. Bei Anklagen wegen Vergewaltigung kommt es in Frankreich selten zu einem Urteil – laut einer Studie der Pariser Denkschmiede Institut der Öffentlichen Politik (IPP) wurden zwischen 2012 bis 2021 94 Prozent der angezeigten Fälle eingestellt. Ein eigenes Gesetz, das "chemische Unterwerfung" ahndet, gibt es in Frankreich ebenfalls nicht. Wenn Personen angeben, betäubt und vergewaltigt worden zu sein, fällt auch dies gesetzlich unter die "verschärfte Vergewaltigung" - dann können bei Verurteilung Strafen mit bis zu 15 Jahren Gefängnis folgen. Bis zu 20 Jahre lang kann man Vergewaltigungen anzeigen, danach verjährt die Frist.
Ein "XXL #meetoo-Moment"?
Die 63-jährige Anne denkt, dass Gisèle Pélicot viele inspirieren wird. Sie nennt den Fall einen "XXL MeToo-Moment". Den Hashtag MeToo benutzt man seit 2017 auf sozialen Medien, um auf sexuellen Missbrauch aufmerksam zu machen. Das Graffito von Gisèle Pélicots Konterfei wurde tausendfach geteilt und abgedruckt. Ihre Forderung "Die Scham muss das Lager wechseln" hat sich zum Kampfaufruf feministischer Frauen entwickelt.
Anne, die ihren wirklichen Namen aus juristischen Gründen nicht nennen darf, ist selbst Opfer von chemischer Unterwerfung. Ihr Vater soll ihr Drogen verabreicht haben und sie jahrelang als Kind missbraucht haben. Den Missbrauch hat er auch gefilmt. Die Verbrechen sind allerdings verjährt, da sie in den 1970er Jahren stattfanden. "Gisèle ist so würdevoll und elegant, dass all der Missbrauch, den sie erlitten hat und den man nun vor Gericht ausbreitet, ihr offenbar nichts anhaben kann", sagt Anne der DW.
"Sie ist zum Vorbild für viele Opfer von Vergewaltigung geworden, die, wie ich, sich lange Zeit nicht getraut haben, über ihre Erlebnisse zu sprechen, als ob wir selber daran Schuld seien." Sich selbst schuldig zu fühlen, ist bei vielen Opfern von sexueller Gewalt ein automatischer Reflex. Für Anne betont Pélicots Fall auch, dass chemische Unterwerfung nicht nur auf Parties vorkommt. "So etwas passiert oft innerhalb einer Familie. Wir sollten lernen, die Warnsignale zu erkennen. Regelmäßige Kopfschmerzen und Gedächtnislücken können dazugehören", sagt sie.
"Auch Anwälte sollten sich in Frage stellen"
Arnaud Gallais ist, gemeinsam mit Pélicots Tochter Caroline Darian, Mitbegründer des Vereins "Betäub Mich Nicht" (M'Endors Pas). Er sagt, dass auch Anwälte sich mehr in Frage stellen sollten. "Manche Anwälte der Verteidigung traumatisieren sie zusätzlich, wenn sie sagen, dass Gisèle ihr Einverständnis zum Sex gegeben hätte. Dabei war sie bewusstlos oder hat geschnarcht!"
Sein Verein hat Beschwerde beim Anwaltsorden eingereicht und will, wenn nötig, bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, damit französische Anwälte strengeren Regeln unterworfen werden. Außerdem findet auch Gallais, dass Frankreich eine umfangreichere Gesetzgebung benötigt. "Wir brauchen Paragraphen, in denen die chemische Unterwerfung explizit erwähnt wird und die weite Bereiche des öffentlichen Lebens einbeziehen – also zum Beispiel mehr Training für die Polizei und Ärzte und auch mehr Informationskampagnen", fügt er hinzu.
Spezifische Trainingseinheiten für die Polizei gebe es bisher kaum, bestätigt Jean-Christophe Couvy, Generalsekretär der Polizeigewerkschaft Unité. "Kurse zu Gewalt gegenüber Frauen sind Teil der Grundausbildung, aber es gibt nur wenige Plätze in Weiterbildungen zu Chemischer Unterwerfung. Die sind reserviert für spezialisierte Polizisten", erklärt er gegenüber DW. "Wir alle sollten solche Kurse absolvieren – auch, um auf dem neuesten Stand zu sein, welche Drogen Täter verwenden."
Könnte Frankreich die Verjährung aufheben?
Justine hat indes ihren eigenen Weg gefunden, um sich etwas besser zu fühlen. "Ich habe einige Sitzungen von Hypnose und Traumatherapie gemacht", sagt die ausgebildete Psychologin. "Als ich gemerkt habe, dass sie mir helfen, hab ich mich in diesen Therapien weitergebildet und gebe sie jetzt selbst meinen Patienten und Patientinnen, von denen viele Opfer sexueller Gewalt sind." Sie sagt, sie heile sich selbst, indem sie anderen beim Heilen zur Seite stehe.
Dennoch hofft auch sie, dass der Fall Pélicot dazu beitragen wird, dass sich Opfer generell nicht mehr so alleine fühlen. "Es ist etwas ins Rollen gekommen, was man nicht mehr aufhalten kann", sagt sie. "Ich hoffe, dass die Polizei nun endlich alle Klagen aufnehmen wird und dann Gerichte über die Fälle entscheiden werden."
Die Regierung hat indes erneut eine parlamentarische Kommission zum Thema "chemische Unterwerfung" ins Leben gerufen, die auch Gesetzesänderungen vorschlagen könnte. Anne hofft, dass Frankreich bald die Verjährung von Sexualverbrechen aufheben wird – vor allem, wenn die Opfer Kinder sind. "Mein Vater ist noch am Leben. Man sollte ihn dafür zur Rechenschaft ziehen, was er getan hat", fordert sie. "Ich hoffe, dass er die Pélicot-Verhandlung beobachtet, und vor Angst zittert angesichts dessen, was das Ganze für ihn nach sich ziehen könnte."