Globalisierung: Muss Deutschland sich neu erfinden?
30. Juni 2020Und plötzlich schien die Welt stillzustehen - und mit ihr der Handel, die Lieferketten, die ganze Wirtschaft. Nicht überall zugleich - aber peu à peu zeigte uns ein winziges Virus, wer hier am längeren Hebel sitzt. Die starken Industriehengste, China, USA, Deutschland, waren es nicht.
Und nun?
Doch die Globalisierung - über viele Jahrzehnte ein dynamischer Prozess - sei bereits vor der Corona-Pandemie zum Stillstand gekommen, schreiben Ökonomen der BayernLB und des Beratungshauses Prognos in einer aktuellen gemeinsamen Veröffentlichung, in der sie den internationalen Handel, die Investionsverflechtungen und globalen Kapitalverkehr analysieren.
Ein Ergebnis der Ökonomen: der große Globalisierungsschwung der 2000er-Jahre ist vorüber, teilweise sei sogar eine rückläufige Entwicklung zu sehen. Was seit der Finanzkrise 2008 vor sich hingeplätschert ist, hat nun schlichtweg das große Finale erreicht.
Das Fundament bröckelt
Besonders deutlich lasse sich das Abflauen anhand der Zahlen zum Warenhandel ablesen: Die globalen Warenexporte in Relation zur Wirtschaftsleistung stagnieren seit rund einer Dekade.
Beim Dienstleistungshandel zeigt sich indes zwar nach wie vor ein leichter Zuwachs. Im Vergleich zu den Güterexporten spielen die Dienstleistungsexporte nach wie vor jedoch eine untergeordnete Rolle.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Verflechtung der weltweiten Kapitalmärkte. Bis zur weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 erfolgte eine deutliche Intensivierung bei der Globalisierung der Finanzmärkte. Danach ging jedoch - insbesondere in Europa im Zuge der Eurokrise - der Umfang der grenzüberschreitenden Finanzierung durch Banken deutlich zurück.
Gleiches gelte für die Internationalisierung der Unternehmensstrukturen. So sei die Dynamik der Auslandsinvestitionen und der Auslandsumsätze im letzten Jahrzehnt weitgehend zum Erliegen gekommen.
Ära der Globalisierung
"Aus allen Perspektiven zeichnet sich damit ein klares Bild: Die Ära der Globalisierung, wie wir sie kannten, ist vorbei," heißt es in dem Bericht. In vielen Bereichen stagniert die ökonomische Globalisierung, in manchen sei sie sogar rückläufig.
Nichtsdestotrotz gibt es auch Bereiche, die florieren - angetrieben von der zunehmenden Digitalisierung der Wirtschaft umfasst die wirtschaftliche Verflechtung zunehmend monetarisierte Ströme von Daten und Know-how zwischen Ländern. Doch "die Umsätze in diesen Bereichen sind allerdings bisher so gering, dass die Stagnation im Warenhandel mittelfristig nicht durch die hier sichtbare starke Dynamik kompensiert werden kann".
Damit stehe die sehr stark auf einen wachsenden Außenhandel ausgerichtete deutsche Wirtschaft mit den traditionellen Absatzmärkten in Europa, Nordamerika und China vor der großen Herausforderung, dass das zentrale Fundament ihres bisherigen Geschäftsmodells bröckelt und keine Basis mehr für künftiges Wachstum bietet, so das Fazit der Studienautoren.
Andere Ansätze
Doch BayernLB und Prognos analysieren in ihrer Veröffentlichung nicht nur den Ist-Zustand, sie zeigen auch neue Geschäftsfelder für die deutsche Wirtschaft auf - nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland.
Die Ökonomen stellen drei Ansätze vor, in denen sie allein oder in Kombination den erfolgversprechendsten Weg sehen.
1. Neue geografische Märkte
Nach einem Modell soll sich Deutschland verstärkt den aufstrebenden und bevölkerungsreichen Ländern zuwenden, die für das Wachstum im Auslandsgeschäft relevanter werden. Zu solchen Märkten gehören etwa Indien, die Philippinen oder Nigeria.
"Dass der Güterhandel weltweit stagniert, ist auf den ersten Blick ein Problem für deutsche Unternehmen. Eine Chance liegt jedoch im wirtschaftlichen Aufholprozess von einigen Entwicklungs- und Schwellenländern", sagt Prognos-Chefvolkswirt Michael Böhmer. Denn auch dort zeige sich langfristig eine stark steigende Importnachfrage.
"Es gibt eine ganze Reihe von Märkten auf der Welt mit einer attraktiven Kombination aus Bevölkerungswachstum - das heißt die Volkswirtschaft wird größer - und aber auch Pro-Kopf-Wachstum - das heißt die Volkswirtschaft entwickelt sich, sie wird durch mehr Nachfrage gestärkt", sagt Michael Böhmer im DW-Gespräch.
Nichtsdestotrotz betont er auch: "Es wird deshalb kein zweites China geben." Zudem seien die Geschäfte viel kleinteiliger und es könnte mitunter schwieriger werden, den Marktzugang zu finden. Er sieht die Länder somit nicht als Ersatz, sondern als wichtige und sinnvolle Ergänzung.
Doch um dieses Potenzial tatsächlich heben zu können, müssen die exportierenden Unternehmen ihre Produkte aber auf die spezifischen Anforderungen in den Schwellenländern anpassen und die Bedürfnisse der Kunden in den einzelnen Ländern analysieren.
Bedeutet zum Beispiel: Einfache konstruierte robuste Maschinen und Anlagen sind in den aufstrebenden Ländern mehr gefragt als technologisch besonders anspruchsvolle Premium-Modelle.
"Mit kostengünstigen, simpleren Produkten tun sich deutsche Anbieter häufig eher schwer, doch mit der richtigen Strategie kann das Gütesiegel Made in Germany auch für Erfolg auf den neuen Wachstumsmärkten stehen", sagt Böhmer.
2. Neue Produkte
Außerdem sehen die Ökonomen viel Potenzial in der Entwicklung innovativer Exportprodukte. Besonders vielversprechend:
hybride Geschäftsmodelle, bei denen klassische industrielle Ansätze mit digitalen Technologien verbunden werden. Dies ermögliche die Integration von Dienstleistungen rund um ein Kernprodukt.
Heißt: Es wird nicht allein die Maschine verkauft, sondern als zusätzliche Leistungen die fortlaufende Wartung oder fortlaufende Unterstützung bei der Betriebskostenoptimierung.
"Viele deutsche Unternehmen haben sich der Plattformökonomie mittlerweile zwar stärker zugewandt, aber ein großer Teil der Unternehmen hat sich noch gar nicht damit befasst oder hält es für irrelevant; das ist fatal", erklärt Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB.
3. Binnennmarkt im Visier
Während BayernLB und Prognos den Auslandsmärkten immer noch viel Potenzial zusprechen, dürfte das Exportgeschäft jedoch auch deutlich anspruchsvoller werden, heißt es in der Studie.
Für die Binnennachfrage müsse dies nicht gelten. Hier erwarten die Ökonomen in den kommenden Jahrzehnten einen Schub. "In Deutschland wird etwa die Nachfrage nach Produkten und Leistungen, die auf die Bedürfnisse der älteren Generationen ausgerichtet sind, spürbar zulegen. Dazu gehören neben spezifischen Produkten für ältere Menschen auch Gesundheitsdienstleistungen oder touristische Angebote", sagt Böhmer.
Geschäftschancen im Inland sehen die Experten von BayernLB und Prognos nach den geplanten milliardenschweren Konjunkturprogrammen der Bundesregierung aufgrund der Corona-Krise auch bei den öffentlichen Investitionen.
"Wir können vor dem Hintergrund des in der Vergangenheit relativ niedrigen Investitionsniveaus künftig höhere staatliche Investitionen in die Infrastruktur erwarten, etwa beim Verkehr oder bei der digitalen Infrastruktur", meint Böhmer.
Nachhaltigkeit ist obligatorisch
Auch das Thema Nachhaltigkeit taucht immer wieder in der Studie auf. "Deutschland sollte auf Grundlage seines technologischen Know-hows und seiner Vorreiterrolle innerhalb der EU noch stärker den globalen Trend zu mehr Nachhaltigkeit nutzen", heißt es.
Michels ist überzeugt: "Ist der politische Wille da, den Klimawandel einzudämmen, geht dies nicht ohne erhebliche Investitionen in Umwelttechnik, was wiederum innovative Geschäftsmöglichkeiten eröffnet".
Wenige Beispiele unter den vielen Möglichkeiten sind hierfür sind das Recycling der Rotorblätter von Windanlagen, von Stoffen und Textilien sowie Batterien von E-Autos sowie E-Bikes. Neue Märkte könnten auch über den Export von Sortier- und Recyclingverfahren erschlossen werden.
Stärken nutzen und weiterentwickeln
Doch all diese Ansätze haben gemeinsam, dass sie auf den bisherigen Stärken der deutschen Wirtschaft aufsetzen.
"Wir müssen Deutschland als Industrie, auch als Dienstleister, nicht komplett neu erfinden, sondern wir müssen schauen, wo wir unsere bisherigen Stärken nutzen können", sagt Michael Böhmer. Das heißt für Deutschland, sich aus der guten Ausgangsposition, der Vergangenheit mit seinen Kompetenzen, Erfahrungen und seiner Innovationsfähigkeit weiterzuentwickeln. Dabei müsse die Betonung auf 'Weiterentwicklung' liegen.
Das Exportland Deutschland wird und muss sich wandeln, davon sind Prognos und BayernLB nach Auswertung der Daten überzeugt: "Die Globalisierung, so wie wir sie seit Jahren und Jahrzehnten gekannt haben, schreitet nicht weiter voran."