Grüne Demut, oppositionelle Erleichterung
28. November 2011Der Widerstand gegen den Umbau zum Tiefbahnhof hatte ihn ins Amt gebracht. Nun haben die Baden-Württemberger in einer Volksabstimmung Deutschlands ersten grünen Regierungschef in einem Bundesland dazu verpflichtet, das ungeliebte Verkehrsprojekt "Stuttgart 21" zu bauen. "Dieses klare Votum hat mich überrascht", gab Winfried Kretschmann am Montag (28.11.2011) zu, der das Ergebnis in "Demut" annehmen will – ein von ihm häufig gebrauchter Begriff. Nicht einmal in Stuttgart selbst konnten die Gegner des Infrastrukturprojekts "Stuttgart 21" sich in der Abstimmung durchsetzen. Dort hatte im vergangenen Herbst eine breite Bewegung von Gegnern des geplanten unterirdischen Bahnhofs mit dafür gesorgt, dass sich zum ersten Mal seit mehr als 50 Jahren die Stimmung in dem Bundesland gegen die regierenden Christdemokraten drehte und eine grün-rote Landesregierung die Macht nach Landtagswahlen übernahm.
Union: "Es war ganz anders"
Kretschmann kündigte an, das Ergebnis der Abstimmung zu respektieren und das Projekt zu bauen, das neben dem neuen Bahnhof auch eine Schnellbahnstrecke ins nahe gelegene Ulm vorsieht. "Wir werden jetzt umschalten von ablehnend-kritisch auf konstruktiv-kritisch", sagte er nach einer Sondersitzung der Landesregierung. Einen Rücktritt des Verkehrsministers Winfried Hermann, der als besonders profilierter Gegner des Projekts gilt, nannte er "abwegig". Dieser hatte am Sonntagabend zugesagt, das Projekt nun auch gegen seine Überzeugung zu bauen.
Den Befürwortern des Projekts war die Erleichterung deutlich anzumerken. "Das zeigt an, dass wir eine leistungsfähige Infrastruktur und zugleich eine hohe Bürgerbeteiligung erreichen können", sagte der Sozialdemokrat Nils Schmid, Koalitionspartner Kretschmanns und Befürworter von "Stuttgart 21". Deutlicher wurden Vertreter der konservativen Christdemokraten. "Eine Minderheit hat über Monate hinweg das Land in Atem gehalten mit der Behauptung: Wir vertreten die Mehrheit", erklärte der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder, der aus Baden-Württemberg stammt. "Und jetzt zeigt sich, dass es ganz anders war."
Bahn will "konstruktives Miteinander"
Zufrieden zeigte sich auch Rüdiger Grube, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn und damit der eigentliche Bauherr des Projekts. "Diese Abstimmung hat gezeigt, dass die Bürger mit notwendigen Investitionsentscheidungen verantwortungsvoll umgehen", sagte Grube, vermied aber ein allzu triumphales Auftreten. "Wir haben große Zustimmung erhalten, aber wir haben auch viel gelernt", sagte er mit Blick auf die Proteste. Er forderte die Gegner auf, ihren Widerstand aufzugeben. Nun solle es "kein Gegeneinander von Befürwortern und Kritikern mehr geben, sondern ein konstruktives Miteinander".
Zumindest bei Teilen der Bahnhofsgegner kann er darauf allerdings nicht hoffen. "Wir stellen unsere Aktivitäten erst ein, wenn 'Stuttgart 21' beendet ist", erklärte Matthias von Herrmann, Sprecher der "Parkschützer", die das Projekt besonders vehement ablehnen. Die nächste Demonstration der Gegner war bereits für Montagabend angekündigt.
Ministerpräsident Kretschmann hingegen will ausstehende Fragen nun "lösungsorientiert" angehen. Denn offene Punkte gibt es genug. Ob die eingeplanten 4,5 Milliarden Euro für das Projekt ausreichen werden, wird von vielen Experten bezweifelt. Die Grünen fordern nun, dass die Bahn eventuelle Mehrkosten allein übernimmt. Das Bundesland wolle sich an zusätzlichen Kosten nicht beteiligen, erklärte Kretschmann. Das Unternehmen allerdings weist eine solche Vereinbarung mit Bezug auf die bestehenden Verträge zurück. "Es darf sich keiner in die Ecke setzen und sagen: Ich nicht", betonte Grube.
Kretschmann: "Daran müssen wir uns gewöhnen"
Volksabstimmungen sind in Deutschland nur in einigen Bundesländern möglich. Und häufig liegen ihnen hohe Hürden zugrunde. Um tatsächlich den Ausstieg des Landes aus der Finanzierung des Projekts zu erreichen, hätten die Bahnhofsgegner nicht nur die Mehrheit in der Volksabstimmung benötigt, diese Mehrheit hätte auch ein Drittel der Wahlberechtigten ausmachen müssen. Bei 48 Prozent Wahlbeteiligung hätten das mehr als zwei Drittel der abgegebenen Stimmen sein müssen. Trotz der Niederlage forderte Kretschmann eine Senkung dieser Hürde. Mehr Volksabstimmungen sind eine langjährige Forderung der Grünen, und so versuchte er, die Abstimmungsniederlage wenigstens zu einem Erfolg für mehr direkte Demokratie umzudefinieren. "Daran müssen wir uns gewöhnen", kommentierte er in der sachlich-behäbigen Art, die zu seinem Markenzeichen geworden ist. "Das sind wir in unserer repräsentativen Demokratie natürlich nicht gewohnt. Die Legitimation des Projekts erfolgt nicht durch ein Wahlversprechen sondern durch das Abstimmungsergebnis."
Autor: Mathias Bölinger
Redaktion: Kay-Alexander Scholz