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"Brasilien traute sich mehr als Europa"

Haase, Nina/Zeier, Kristin13. Juni 2014

In einem Exklusiv-Interview mit der DW spricht der Snowden-Vertraute Glenn Greenwald über den Abhörskandal. Die deutschen Reaktionen auf den Spähangriff hätten viel stärker ausfallen können, meint der Journalist.

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Glenn Greenwald Journalist (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Glauben Sie, dass die deutschen Geheimdienste im Bilde waren beim sogenannten "Handygate"-Skandal, also dem Abhören von Kanzlerin Merkels Mobiltelefon?

Glenn Greenwald: Aus den Dokumenten, die der Spiegel über das Abhören von Kanzlerin Merkels Mobiltelefon seitens der NSA veröffentlicht hat, geht nicht eindeutig hervor, in welchem Ausmaß deutsche Geheimdienste davon Kenntnis hatten oder beim Abhören beteiligt waren - falls überhaupt. Deswegen ist es schwierig für mich, diese Frage im Detail zu beantworten. Aber was ich allgemein sagen kann ist, dass es eine klare Beziehung zwischen der NSA und dem deutschen Geheimdienst gibt. Die Beziehung ist sehr viel beschränkter und diskreter als die zwischen der NSA und zum Beispiel dem GCHQ in Großbritannien oder den kanadischen, australischen oder neuseeländischen Geheimdiensten. Aber es gibt sie. Ausgehend von dem, was sich für mich aus den Dokumenten ergibt, wäre ich dennoch überrascht, wenn - rein hypothetisch gedacht - deutsche Geheimdienste tatsächlich Kenntnis hatten von der übergreifendsten Form des Ausspionierens von deutschen Bürgern oder der deutschen Regierung durch die NSA.

"Die Briten sind noch aggressiver"

Die größte Wut der Europäer über Spionageaktivitäten richtet sich gegen die NSA. Aber, wie Sie auch in Ihren Artikeln beschreiben, geht der britische GCHQ, auch wenn er in vielerlei Hinsicht kleiner ist, sogar noch viel aggressiver vor als sein Pendant in den USA. Verwundert es Sie, dass die EU nicht viel stärker auf die Ausspähaktivitäten eines EU-Mitgliedsstaates reagiert hat?

Es ist beinah zu weit hergeholt, wenn man von der NSA und dem GCHQ als von zwei verschiedenen Einheiten spricht. Sie arbeiten partnerschaftlich zusammen, und zwar in fast allen Bereichen. Manchmal teilen sie sich auch die Arbeit, damit sie gesetzliche Einschränkungen zu Hause oder technologische Hindernisse umgehen können. In so gut wie jedem Fall arbeiten sie Hand in Hand. Die NSA zahlt dem GCHQ Geld. Und der GCHQ nimmt wie alle britischen Einrichtungen die Anweisungen aus der politischen Elite der USA gehorsam entgegen. Deshalb bringt es nicht viel, über sie als zwei verschiedene Einheiten zu sprechen. Gleichzeitig stimmt es, dass der GCHQ sich oft nur zu gewillt in den übergreifendsten Formen von Überwachung betätigt und auch Dinge tut, die die NSA nicht tun würde. Die Briten verhalten sich auch ihren EU-Nachbarn gegenüber wahrscheinlich sogar aggressiver als die NSA - schon allein wegen der geographischen Nähe und dem Zugang zu den Telekommunikationssystemen.

Für meinen Geschmack hat sich die Debatte in der EU deshalb ein wenig zu sehr mit der NSA beschäftigt und zu wenig mit dem, was der eigene EU-Nachbar in Großbritannien eigentlich so treibt. Beim Angriff auf die freie Presse und beim Eindringen in die Privatsphäre von hunderten von Millionen von Europäern kannte die Regierung in Großbritannien keine Grenzen und hat ihre Macht schwer missbraucht. Deshalb wäre ein klarer Fokus auf die Aktivitäten der Briten in meinen Augen unbedingt angebracht.

"Tiefgreifende Bedrohung der Demokratie"

Sie haben auch aufgezeigt, wie stark nationale Geheimdienste abhängen von der bewussten oder schweigend zustimmenden Zusammenarbeit von großen Internet- und Telekommunikationsfirmen, die ja eigentlich die gleichen Ziele haben wie die Geheimdienste: nämlich so viele Informationen wie möglich über so viele Menschen wie möglich zu sammeln. Die Überwachung durch den Staat hat natürlich potenziell größere Auswirkungen. Aber wie besorgt sind Sie über die allgegenwärtige und permanente Datensammlung großer Internetfirmen wie Google?

Es steht außer Frage, dass das Datensammeln durch Internetriesen wie Google, Facebook und Yahoo eine sehr ernste und tiefgreifende Bedrohung der Privatsphäre des einzelnen und der Demokratie als Ganzes darstellt. Diese Firmen stehen ja meist außerhalb jedes demokratischen Kontrollsystems. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen der Überwachung durch den Staat und der durch Privatfirmen: Google kann nur diejenigen Informationen über Sie sammeln, die Sie im Rahmen Ihrer Google-Suche hinterlassen. Aber Google hat zum Beispiel nicht Ihre Facebook-Chats, Ihre Yahoo-Mails oder Ihre Skype-Unterhaltungen. Die US-Regierung und die NSA hingegen versuchen, alle Informationen über Sie an einem Ort zu sammeln. Das ist in meinen Augen ein wichtiger Unterschied. Ein weiterer Unterschied ist, dass der Staat viel mehr Macht hat als Unternehmen. Er hat zum Beispiel die Macht, Ihnen Ihr Eigentum wegzunehmen oder Sie in einem Gefängnis einzulochen, oder - wie im Falle der USA - Sie auf eine Todesliste zu setzen.

Firmen unter Druck

Aber es steht außer Frage, dass die privaten Firmen im Silicon Valley vor den Enthüllungen von Edward Snowden sehr begeistert mit der NSA in fast allen Bereichen zusammengearbeitet haben - und zwar weit darüber hinaus, was das Gesetz vorsieht. Was die Snowden-Enthüllungen unter anderem erreicht haben ist, dass es für diese Firmen jetzt wegen ihrer eigenen zukünftigen Geschäftsinteressen gefährlich ist, diese Kooperation fortzusetzen. Seit den Enthüllungen stehen die Firmen unter Druck und müssen der Öffentlichkeit beweisen, dass sie nicht gewillt sind, der NSA weiterhin Zugriff auf die Daten ihrer Kunden zu gewähren.

Viele Menschen sehen Deutschland und die deutsche Haltung in Sachen Überwachung und digitale Zukunftsfragen als Sonderfall im Vergleich zu den meisten anderen Ländern, die sich weniger um solche Themen sorgen. Stimmen Sie dem zu?

Ich sehe Deutschland nicht als Sonderfall. In vielen Ländern war die Reaktion zur Überwachung genauso intensiv, oder sogar intensiver. Das schließt Brasilien mit ein, das Land, in dem ich lebe. Hier hat die Politik und Präsidentin Roussef viel vehementer und aggressiver reagiert. Präsidentin Roussef hat das Verhalten der USA verurteilt und den ersten Staatsbesuch seit vier Jahrzehnten wieder abgesagt. Dann hat sie das Verhalten der USA vor den Vereinten Nationen scharf kritisiert, während Präsident Obama draußen im Flur wartete. Unter den europäischen Staats- und Regierungschefs hat in meinen Augen niemand so viel Mut bewiesen. Und die europäischen Bürger haben auch nicht so verärgert reagiert wie die Brasilianer. In vielen anderen Ländern in Lateinamerika war die Reaktion übrigens ähnlich intensiv.

Deutschland ist kein Sonderfall

Ich würde deshalb Deutschland nicht als Sonderfall bezeichnen. Auf einer Skala von Ländern, die stark reagierten haben, tendiert Deutschland schon in Richtung derjenigen Länder, denen diese Geschichten wirklich Sorgen bereitet haben. Einerseits natürlich wegen der historischen Rolle, die Eingriffe in die Privatsphäre in der deutschen Politik gespielt haben, und andererseits wegen der schieren Menge an Berichten, die es über NSA-Aktivitäten, die sich gegen Deutsche richteten, gab. Im Vergleich war die allgemeine Reaktion der Deutschen schon besser als in vielen anderen Ländern. Aber ich würde Deutschland trotzdem nicht als Sonderfall bezeichnen. Seit einem ganzen Jahr wird diese Debatte jetzt weltweit geführt. Und in vielen Ländern ist die Reaktion deutlich stärker ausgefallen.

Das Interview ist Teil einer Video-Botschaft zum Global Media Forum 2014 der DW. Thema der Konferenz vom 30. Juni bis 2. Juli in Bonn: "Von Partizipation zu Information - Herausforerdungen für die Medien".