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Politik

"Grenzverschiebungen ohne Blut"

6. September 2018

Seit Jahren will Serbien die Unabhängigkeit seiner früheren Provinz Kosovo nicht anerkennen. Nun wird offen über einen möglichen Gebietsaustausch als Lösung gesprochen. Eine echte Chance, meint dazu Wolfgang Petritsch.

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Galerie : 5 Jahre unabhängiges Kosovo.
Kosovo: Seit 10 Jahren unabhängig, aber nicht von allen anerkanntBild: DW/A. Streicher

Deutsche Welle: Sie haben ja schon sehr früh auch in einem DW-Interview Anfang diesen Jahres über die Möglichkeit von Grenzveränderung zwischen Kosovo und Serbien gesprochen und damit sozusagen einen Tabubruch begangen. Warum? 

Wolfgang Petrisch: Über die vielen Jahre, die jetzt der Dialog von der EU gesponsert zwischen Belgrad und Pristina läuft, sind verschiedene Varianten diskutiert worden. Im Großen und Ganzen ist dabei immer das Prinzip, keine Grenzen zu verändern, berücksichtigt worden. Nun hat sich im Laufe dieses Jahres offensichtlich in dem Dialog in Brüssel eine neue Situation entwickelt. Es ist durchgesickert, dass die beide Präsidenten einen Gebietsaustausch besprechen oder ins Auge gefasst haben. Auch mein erster Reflex war: Das widerspricht dem langjährigen Prinzip, die Grenzen, die bis jetzt bestehen, unverändert zu belassen. Andererseits war aber dann doch der Eindruck, zum ersten Mal in der Geschichte des Balkans wird der Versuch unternommen, Grenzen nicht auf blutige Weise, mit Waffen und einseitig zu verändern, sondern auf friedliche Weise, durch Verhandlungen einen Kompromiss zu finden. Und das hat bei mir den Ausschlag gegeben, um zu sagen: Diesen Vorschlag sollte sich die Europäische Union sehr genau anschauen. Wir fordern seit Jahren, insbesondere mit meinem sogenannten "Ownership-Prinzip" in Bosnien-Herzegowina: Das ist euer Land, schaut, dass ihr eure Probleme selbst löst, im Lande selbst, aber auch mit den Nachbarstaaten. Nun bin ich dafür, dass die Verantwortung der Politiker, wenn sie so einen Vorschlag machen, sehr wichtig ist und wir diese ernst nehmen, weil wir aus Bosnien wissen, dass alle oktroyierten Lösungen bisher nicht funktionieren.

Infografik Kosovo Serbien Gebietsaustausch DE

Was soll nach Ihrer Einschätzung jetzt geschehen, um diesen Prozess voranzubringen?

Ich glaube, dass man sich die Dinge so genau anschauen soll und die Vor- und Nachteile einfach abwägt. Vor allem geht es mir darum, dass die direkt betroffenen Menschen, Bürger und Bürgerinnen auf beiden Seiten der Grenze da auch miteinbezogen werden. Ich denke an Volksbefragungen oder Volksabstimmungen oder was immer die Instrumente sind - natürlich auch die Parlamente. Es soll also der gesamte demokratische Prozess eingehalten werden. Und da habe ich großes Vertrauen in die EU, dass sie darauf achten wird, dass so etwas passiert.

Wolfgang Petritsch österreichischer Diplomat
Wolfgang Petritsch, ehem. Hoher Repräsentant für Bosnien und HerzegowinaBild: picture-alliance/Pixsell

Der zweite Punkt der ich für sehr wichtig halte ist, dass man vor dem Hintergrund der blutigen Erfahrung der neunziger Jahre, sozusagen proaktiv Maßnahmen setzt, die verhindern, dass betroffene Bürgerinnen und Bürger dann in eine Situation kommen, wo sie dann ihr Land, ihr Haus, ihr Dorf oder ihre Stadt verlassen müssen oder wollen. Natürlich gäbe es da große Gefahren, große Risiken, aber man kann sie ja antizipieren.

Der dritte Punkt: Wenn es dort eine Lösung gibt, wäre damit der letzte große historische Konflikt auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien, der Konflikt zwischen Serben und Albanern, beigelegt. Das wäre sozusagen der Anfang, der Start in eine positive Zukunft.

Zwei gewichtige Argumente führen die Kritiker von Grenzveränderungen ins Feld: Erstens solle es keine ethnische Lösungen für Grenzziehung geben und zweitens die Angst vor einem Domino-Effekt. Was erwidern Sie darauf?

Ich kann dazu folgendes sagen: Zum ersten ist das sicherlich eine absolut nachvollziehbare und verständliche Sorge, denn wie gesagt: In der Vergangenheit sind Grenzen immer blutig verändert worden. Ja, das gehört absolut verhindert. Und mit diesem Vorschlag wäre das vom Tisch.

Und zum zweiten muss man sagen: Es gab zum Beispiel vor kurzen eine Internationale Arbitrage im Falle Slowenien-Kroatien über den Zugang zu Adria für Slowenien. Und im Zuge dessen wurden auch einige kroatischsprachige Dörfer in Slowenien an Kroatien gegeben. Wenn Kroatien diese Lösung akzeptiert, würden sie nach ethnischen Kriterien sozusagen, zu Kroatien kommen. Was heißt das dann, worüber regen wir uns da auf?

Die Dimension ist natürlich im Kosovo eine andere...

Das Prinzip, Grenzen zu verletzen, hat man zum Beispiel auch schon 2008 willkommen geheißen, als sich Kosovo einseitig für unabhängig erklärt hat. Damals wurde Kosovo sofort anerkannt von der meisten EU Staaten, obwohl das gegen die UNO Resolution 1244 verstößt.

Herr Petritsch, es gibt viel Widerstand nicht nur in der EU gegen diesen Vorschlag; ein großes Widerstand formiert sich auch im Kosovo. Kann es sein, dass Kosovo der Verlierer bei diesem Deal wäre?

Nein! Ich habe vollen Respekt vor den Protesten, wenn es ihnen darum geht, dass man sagt: Wir wollen nicht nach den alten Ethnokriterien jetzt unseren Staat zu einem vollständigen Staat machen und in die UNO kommen mit diesem Opfer, sondern wir wollen, dass Kosovo in seinen Grenzen bleibt, und daher lehnen wir diesen Vorschlag ab. Das ist absolut legitim. Wäre meine Meinung auch sogar der bessere Weg und würde eher dem entsprechend, wofür Europa steht. Zweifellos. Aber die Sache ist einfach so: offensichtlich von der EU und [der EU-Außenbeauftragten Federica] Mogherini akzeptiert, werden hier andere Überlegungen gesetzt. Da geht mir darum, dass man diese Überlegungen auch ernst nimmt. Man muss aber gleichzeitig die Proteste mit einbeziehen.

Am 7. September findet das Treffen Thaçi-Vuçiç-Mogherini in Brüssel statt, wo dieser Vorschlag diskutiert wird. Was erwarten Sie davon?

Ich erwarte Klärung. Sie müssen bedenken, in welchem Umfeld, in welchem regionalen und europäisch und globalen Umfeld die ganze Sache stattfindet. Die Situation hat sich in so vieler Hinsicht radikal verändert im Balkan. In den 90er Jahren gab es zwei große Akteure dort, die Amerikaner und die Europäer. Die Amerikaner sind im großen und Ganzen im Rückzug. Die Europäer sind, wie wir wissen, in der letzten zehn Jahren nicht gerade glänzend da gestanden. In der Zwischenzeit baut China bereit die Seidenstraße durch den Balkan. Russland ist wirtschaftlich und natürlich auch politisch mit Störmanövern sehr aktiv dort. Die Türkei mit ihre eher neoosmanischen Politik ist der dritte sehr wichtiger Player dort, und hier kommen auch dazu die Golfstaaten,  die hunderten Millionen bereit investiert haben, nicht nur in Bosnien, auch in Serbien zum Beispiel. Ich habe nichts dagegen, wenn China hier investiert, aber mir geht es darum, dass es nach europäischen Regeln passiert der Transparenz, der Nachvollziehbarkeit ohne Korruption und so weiter. Wen wir uns aber dafür keine Zeit nehmen, weil wir uns seit vielen Jahren mit solchen Problemen wie Kosovo beschäftigen, dann sage ich mir: schauen wir mal, dass wir eine Lösung finden. Das gibt zwei Präsidenten, die wollen eine Lösung.

Wenn jetzt am Freitag dieser praktisch gemeinsame Vorschlag vorgetragen wird, auf welcher Zeitachse sehen Sie dann eine Lösung mit möglichen Grenzverschiebungen?

Die jetzige EU-Kommission, das ist auch meine große Sorge, hat ein Ablaufdatum. Man muss schauen, dass bis März nächsten Jahres eine Lösung unter Dach und Fach hat, denn dann sind die Kommission und Mogherini Geschichte. Und wenn die Sache scheitert und zurückfällt in den ursprünglichen Zustand, dann kann ich Ihnen garantieren, wird sich keine neue Kommission, keine neue Nachfolgerin von Mogherini dieser Sache annehmen. Ich kann Ihnen garantieren, dass die Machtverhältnisse im Europäischen Parlament anders aussehen werden. Und zwar werden dort die Rechtspopulisten ziemlich dazu gewinnen. Und die Rechtspopulisten, wissen wir, werden von Russland unterstützt. Da wird es sicher keine Lösung geben, die wir uns wünschen würden.

Der österreichische Diplomat und Sozialdemokrat Wolfgang Petritsch war als österreichischer Botschafter in Belgrad von 1997 bis 1999 EU-Sonderbeauftragter für den Kosovo und EU-Chefunterhändler bei den Kosovo-Friedensverhandlungen von Rambouillet. Später war er von 1999 bis 2002 als Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina zuständig für die zivile Implementierung des Bosnien-Friedenvertrages von Dayton. Der ehemalige österreichische Spitzendiplomat arbeitet heute für die Wiener Kanzlei "Lansky und Partner", die auch die serbische Regierung berät. 

Das Gespräch führte Adelheid Feilcke