Vergangenheit gemeinsam aufarbeiten
27. Mai 2020Es ist ein warmer Frühlingstag in Thessaloniki. Meine Kollegin Alexia und ich gehen gemeinsam am Meer spazieren. Jetzt dürfen wir das wieder. Als Teil der Corona-Maßnahmen war die Strandpromenade über Wochen gesperrt. Jetzt hat die Stadt die Absperrgitter wieder geöffnet. Es fühlt sich beinahe verboten an, hier zu sein.
Die letzten paar Wochen hat sich die Stadt unter den Virusmaßnahmen in ein Skelett ihrer selbst verwandelt. Das Leben, das sonst durch die engen Straßen pulsiert, ist zum Stillstand gekommen. Die Tavernen, Bars und Cafés sind geschlossen. Die antiken, byzantinischen und osmanischen Denkmäler werfen ihre Schatten auf leere Plätze. Thessaloniki ist eine Stadt der permanenten Verwandlung. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende hat sie sich ständig neu erfunden. Dadurch ist Thessaloniki in einen Nebel der Vielseitigkeit gehüllt, der sich nur dann durchdringen lässt, wenn man Fragen stellt, in der Vergangenheit gräbt, Punkte miteinander verbindet.
Wiederentdeckung der jüdischen Geschichte
Ein vergessenes Kapitel der Geschichte von Thessaloniki findet langsam den Weg zurück ins Sichtfeld der Menschen: die jüdische Vergangenheit. Etwa 1000 jüdische Griechen leben heute in Thessaloniki. Nicht wenige von ihnen versuchen, ihre jüdische Identität vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Bevor die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg das Land besetzte, Hunger und Leiden über die Bevölkerung brachte und die Juden in die Konzentrationslager deportierte, war die Stadt als "Jerusalem des Balkans" bekannt.
Die jüdische Geschichte Thessalonikis reicht mehr als 2000 Jahre zurück. Im späten 15. Jahrhundert siedelten sich dann auch sephardische Juden aus Spanien an, die von den Katholischen Königen Isabel und Ferdinand des Landes verwiesen wurden. Sie gestalteten das Leben in Thessaloniki maßgeblich mit und machten es zur "Madre de Israel" – der Mutter Israels. Die Hälfte der Einwohner war jüdischen Glaubens und in allen Klassen der Gesellschaft vertreten.
Nachdem die Nazis etwa 97 Prozent der gut 50.000 Juden, die in den 1940er Jahren hier lebten, ermordeten, gerieten sie für viele Jahre in Vergessenheit. "Wir haben in der Schule so gut wie nichts über die jüdische Bevölkerung der Stadt gelernt," erklärt Alexia. Ich habe viele Menschen in Thessaloniki gefragt, was sie von ihrer jüdischen Geschichte wissen – nicht viel, wie sich herausstellt.
Deutsche Geschichte in Griechenland
In dieser Stadt als deutscher Journalist zu arbeiten ist eine Art von Berufung. Unter jedem Stein, den ich wende, finde ich neue Verbindungen zu meiner eigenen Geschichte; zu den furchtbaren Verbrechen, die die Generation meiner Großeltern hier verübt hat. Mein Großvater war in Griechenland während der Besatzung. Ich rede häufig mit Menschen, die mit ansehen mussten, wie die Wehrmacht ihre Familie und Freunde vor ihren Augen abschlachtete. Dafür haben die meisten nie einen Pfennig an Entschädigung gesehen. War mein Großvater Teil dieser Verbrechen?
Mit Griechen über die Besatzung und den Holocaust zu reden ist eine Herausforderung. Als Deutsche haben wir uns daran gewöhnt, die Vergangenheit unter uns zu diskutieren. Es ist aber etwas anders, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, deren Geschichte in Deutschland nahezu unbekannt ist. Hunderttausende Todesopfer erlitt Griechenland unter deutscher Besatzung. Als Konsequenz folgten Bürgerkrieg und Diktatur. Davon wissen wir in Deutschland nichts. In der Auseinandersetzung mit dem Krieg bevorzugen wir es, unter uns zu bleiben. Wir halten die Opfer weit von uns weg.
Im Gespräch mit Alexia wird mir wieder deutlich: Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist noch lang nicht erschöpft. Während wir diskutieren, fließt unser historisches Verständnis zusammen und dunkle Löcher füllen sich mit Wissen. "Ich habe mich erst spät mit der jüdischen Geschichte auseinandergesetzt," sagt Alexia. Dasselbe gilt für mich und die deutsche Besatzung in Griechenland, denke ich.
Die jüdischen Kinder meiner Stadt
Mein Kollege Florian beschreibt im ersten Teil dieses Textes, wie er sich gefühlt hat, als er zum ersten Mal über Anne Frank gehört hat. Auch ich, Alexia, erinnere mich. Er war acht, ich muss so zwölf gewesen sein. Uns beiden kommt ins Gedächtnis, dass wir die Grausamkeit und die Ungerechtigkeit des Holocaust in diesem Alter kaum begreifen konnten.
Jetzt, viele Jahre später, frage ich mich, warum ich in der Schule nie etwas über Esther und Sabetai Kamhi gelernt habe; zwei Schülerinnen, 13 und 9 Jahre alt, die in Auschwitz ermordet wurden. Vor dem Zweiten Weltkrieg gingen etwa 7500 jüdische Kinder in die Schulen meiner Stadt. Wenige nur überlebten den Holocaust. Ihre Namen wurden nie erwähnt, obwohl ihre Akten in verschlossenen Kisten in den Kellern der Schulen lagerten. Viel zu viele Jahre herrschte Stille in meiner Stadt, wenn es um die jüdische Vergangenheit ging.
Umso mehr freue ich mich, dass zwei junge Historiker aus Thessaloniki Fragen gestellt, diese Kisten geöffnet und so die Namen von 1450 jüdischen Schülern ans Tageslicht gebracht haben. Christos Chatziioannidis und Aggeliki Gavriiloglou haben in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Museum, dem Institut für Jüdische Studien der Aristoteles-Universität und dem Archiv der Jüdischen Gemeinde das Projekt "Mapping the Memory" entwickelt. Der Programmierer Christos Panourgias hat dafür eine interaktive Karte programmiert, auf der man genau verfolgen kann, wo die Kinder gelebt haben. "Einer unserer Beweggründe war, dass nur wenige Menschen in Thessaloniki mit diesem Kapitel der Geschichte vertraut sind," erklärt Christos Chatziioannidis.
Eigene Vergangenheit - neue Perspektive
Ich bin schockiert, als Florian erzählt, dass man in Deutschland kaum etwas über die deutsche Besatzung in Griechenland lernt. Ich dagegen kenne seit meiner Kindheit die Verbrechen, die Hitlers Wehrmacht in meinem Land verübt hat. Gleichermaßen fragt sich Florian, wie eine Stadt ihre jüdische Geschichte so lange Zeit einfach ignorieren konnte. Selektive Erinnerung ist gefährlich, besonders in den schwierigen Zeiten, die vor uns liegen
Die Wunden, die ein Krieg in einer Gesellschaft hinterlässt, heilen schwerlich. Oft übertragen sie sich von einer Generation auf die nächste. Meine Großmutter hat ihren Bruder im Bürgerkrieg verloren. Bis heute, 70 Jahre später, beweinen wir immer Nikos. Wer leidet, der kann auch einfacher hassen. Unsere Generation aber muss damit aufhören, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Wir müssen zeigen, dass wir etwas gelernt haben aus der Geschichte.
Durch das Internet, durch das europäische Studentenaustauschprogramm Erasmus und durch Europa sind wir heute eng miteinander verbunden. Viele meiner Freunde leben im Ausland, auch in Deutschland. Das Konzept des Fremden aber, des 'Invasoren' , schwingt als Erinnerung immer noch mit. "Ich habe keine Schuld, nur weil ich Deutscher bin. Aber ich trage Verantwortung, weil ich über die Verbrechen der Nazis Bescheid weiß", sagt Florian. Es ist an der Zeit, unsere Vergangenheit gemeinsam neu zu denken. Frieden ist nicht einfach eine politische Erklärung. Er kann nur erhalten bleiben, wenn man sich gemeinsam erinnert, wenn man die Position des Anderen einnimmt und so begreift, dass wir alle im selben Boot sitzen.
Florian Schmitz, geboren 1980 im Ruhrgebiet, studierte Komparatistik, Spanisch und Lateinamerikanistik in Berlin und Madrid. Seit 2017 ist er Korrespondent der Deutschen Welle in Griechenland.
Alexia Kalaitzi, geboren 1987, ist eine Multimediajournalistin aus Thessaloniki. Sie arbeitet als Nachrichtenreporterin und schreibt Features für internationale Medien über Menschen im Balkan.