Billie Holiday zum 100. Geburtstag
7. April 2015"Sie war gerade 17, etwas übergewichtig, vollkommen schön und absolut unbekannt. Sie sang, als ob sie wirklich gelebt hatte." So beschrieb der Plattenproduzent John Hammond seine erste Begegnung mit Billie Holiday. Sie war ihm mit ihrer unverwechselbaren Stimme 1933 in einem New Yorker Club aufgefallen. Hammond lud den gerade aufkommenden Jazzstar Benny Goodman ein, sie anzuhören und überredete ihn, sie bei einer Aufnahmesession des Senders CBS einzusetzen. Daraus entstanden die ersten Tondokumente "Riffin' the Scotch" und "Your Mother’s Son-in-Law". Billie Holiday war keinesfalls Hammonds einzige Entdeckung; auch Bob Dylan, Pete Seeger oder später Bruce Springsteen förderte er.
Aus einfachen Verhältnissen
Dabei hatte die singende Urgewalt keine musikalische Ausbildung, einen beschränkten Tonkompass, konnte keine Noten lesen und sang meist nur langsame Balladen. Ihre einzigen Vorbilder waren die Sängerin Bessie Smith und der Trompeter und Bandleader Louis Armstrong, die sie auf Schallplatten hörte als sie in einem Bordell arbeitete.
Billie Holiday wurde am 7. April 1915 in Philadelphia/USA als Eleanora Fagan geboren und wuchs in Baltimore auf. Ihre Eltern, gerade Teenager, heirateten nie. Der Vater, Clarence Holiday, später ein erfolgreicher Jazzmusiker, kannte seine Tochter kaum. Die Mutter, Sadie Fagan, kümmerte sich wenig um die Tochter. Eleanora schwänzte die Schule, kam in ein Erziehungsheim und wurde dort im Alter von zehn Jahren vergewaltigt. Später arbeitete sie als Prostituierte im New Yorker Schwarzenviertel Harlem.
Bühnentriumphe, die sie zuletzt nach Carnegie Hall, zu einem Jazzabend bei der Metropolitan Opera und einer Europatournee führten, standen zwei gescheiterten Ehen und zwei Gefängnisaufenthalte wegen Drogenmissbrauchs gegenüber. Sie starb gerade 44-jährig an einer alkoholbedingten Leberzirrhose in einem New Yorker Krankenhaus - bewacht und noch am Sterbett verhaftet von der Drogenpolizei. Sie hat mit allen Jazzgrößen ihrer Zeit gespielt. Doch die Liebe, die ihr Millionen Fans entgegenbrachten, nutzte ihr wenig: Selbst darüber, wer ihren Grabstein bezahlen sollte, wurde gestritten.
Sie war ihrer Zeit voraus
Es war ein kurzes Leben von erstaunlicher Produktivität, mit Hunderten von Aufnahmen und unzähligen Auftritten. Nach anfänglichem Tingeln durch die Speakeasys-Clubs, in denen in der Prohibitionszeit Alkohol illegal konsumiert wurde - kam der eigentliche Karrierestart 1935. In Aufnahmesessions mit Teddy Wilson, einem Mitglied des Benny Goodman-Trios, sollten in kleiner Besetzung Klassiker für die junge Spielautomaten-Industrie aufgefrischt werden. Die Aufnahmen waren nur begrenzt erfolgreich, wie John Hammond sich später erinnerte: "Mit Billie war es problematisch. Musikalisch war sie ihrer Zeit weit voraus. Da sie sich Freiheiten mit Worten und Melodie nahm, war sie keinesfalls Liebling der damals allentscheidenden Musikverlage. Die erste echte Wertschätzung Billie Holidays kam nicht von amerikanischen Musikkritikern sondern von europäischen."
Worte für die eigene Vokaltechnik fand die Sängerin in ihrer 1956 erschienenen Autobiographie "Lady Sings the Blues": "Mir kommt es nicht wie Gesang vor. Eher ist es das Gefühl, als würde ich ein Horn spielen. Ich versuche, wie Les Young zu improvisieren, wie Louis Armstrong oder sonst noch jemand, den ich bewundere. Ich hasse es, geradeaus zu singen. Ich muss eine Melodie umformen, um sie auf eigene Weise zu wiedergeben. Das ist alles, was ich weiß."
Eine Stimme wie ein Instrument
Das war genug. Dieser Gesang, der keiner war, mischte sich auf subtilste Weise mit ebenfalls improvisierenden Musikern: ab 1936 mit Lester Young - der ihr den berühmten Spitznamen "Lady Day" gab - ab 1937 mit Count Basie und ab 1938 mit Artie Shaw.
Die Triumphe gingen immer mit einem gewaltigen Wermutstropfen einher: Wie Millionen andere Schwarze litt auch Billie Holiday unter der Rassendiskriminierung. Wegen ihrer etwas helleren Hautfarbe musste sie sich beim Auftritt mit Count Basie schwärzer schminken lassen: Eine "weiße" Sängerin, die mit einer schwarzen Band auftrete, wäre ein Skandal gewesen. Holiday trotzte dem Stereotyp. Die Auftritte mit Artie Shaw waren die ersten einer schwarzen Frau mit einer weißen Band. Die Sängerin dürfte jedoch nur den Hintereingang zur Bühne benutzen und nicht mit den anderen Musikern zusammen essen. Der Erfolg war dennoch nicht aufzuhalten; später traten "Billie Holiday and her Band" auf. 1947 durfte sie im Film mit ihrem Idol Louis Armstrong auftreten, jedoch nicht als sie selbst sondern als Dienstmädchen.
Ikone der Bürgerrechtsbewegung
Mit "Strange Fruit", das Holiday ab 1939 sang, sagte sie der Diskriminierung den Kampf direkt an. Die Vertonung eines Gedichts von Abel Meeropol war ein erschütterndes Dokument der in den Südstaaten verbreiteten Lynchjustiz. Die Plattenfirma Columbia sah den Song als zu riskant an, selbst ihr Produzent John Hammond lehnte ihn ab. Die Plattenfirma Commodore nahm ihn dann auf; es wurde ihr größter Hit und machte Holiday zu einer Ikone der amerikanischen Linken und zu einem gesellschaftlichen Phänomen. Als Symbol der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wurde "Strange Fruit" 1999 von "Time Magazine" zum "Song des Jahrhunderts" ernannt
Was bleibt...
Heute sind Songs, die für Holiday geschrieben oder von ihr mitkomponiert wurden wie "Lover Man", "Don't Explain" oder "Long Gone Blues" genau so bekannt wie zu ihrer kurzen Lebenszeit. Aber auch zahlreichen Klassikern wie George Gershwins "You Go to My Head" oder "I Can’t Get Started" gab sie ihre unverwechselbare Prägung. Neben den weißen Blumen, die "Lady Day" im Haar trug, war die subtile Artikulation und Phrasierung ihr Markenzeichen. Und selbst als ihre Stimme in späteren Jahren rau geworden war, verlieh ihr Billie Holiday einen rhythmischen Zauber. Sie sang nicht "auf" sondern leicht "nach" dem Beat, traf den Rhythmus nicht direkt sondern umgarnte ihn und verlieh ihm dadurch eine ungeheurere Spannung.
Neben der Gesangstechnik war es vor allem die Intensität ihres Vortrags, die Billy Holiday zum Vorbild für unzählige andere Sänger machte. Das Rezept, so Holiday selbst, die ein so schweres Leben führte, war ganz einfach: "Lieder wie 'The Man I Love' oder 'Porgy' zu singen ist nicht mehr Arbeit als sich hinzusetzen und chinesische Ente zu essen - und ich liebe chinesische Ente. Ich habe Lieder wie diese gelebt."
Der amerikanische Jazzkritiker Ralph Gleason formulierte es 1973 so: "Sie war die größte Jazz-Sängerin aller Zeit. Wer heute Jazzgesang macht und Frau ist, singt etwas von Billie Holiday. Anders geht es nicht. Es gibt keine Vokalistin, die nicht von ihr beeinflusst worden wäre." Das gilt noch heute.