Haiti steht vor dem Abgrund
3. Dezember 2019Andre Michel kommt eine Stunde zu spät zum Interview in seine Kanzlei im Zentrum der haitianischen Hauptstadt. Straßensperren umfahren, möglichen Hinterhalten ausweichen - das gehört seit einem Jahr zum Alltag des bedrohten Anwalts. Der Grund dafür ist ein dickes Dossier, das vor ihn auf dem Schreibtisch liegt, zwischen gelben Pappdeckeln: "Petrocaribe", heißt der wohl grösste Korruptionsfall der jüngeren Geschichte, der Michel dazu gebracht hat, gegen Präsident Jovenel Moise einen Prozess anzustrengen. Seither erhält er Todesdrohungen, seither lebt Haiti im Ausnahmezustand, weil die Bevölkerung sich gegen die Regierung erhoben hat und das Land mit Demonstrationen und Streiks lahmlegt, denen sich zeitweise auch die Polizei anschließt. "Pays lok" - blockiertes Land, nennt der Volksmund die Situation. Kriminelle blockieren Überlandstraßen und verlangen dort Wegzoll oder rauben die Passanten aus - selbst die UNO, die vor einer humanitären Notlage warnt, verteilt Hilfsgüter nur noch auf dem Luftweg. Über 40 Menschen starben im Rahmen der Proteste. "Der Staat ist gescheitert, der Präsident ist in seinem Palast gefangen", fasst Michel die Situation gegenüber der DW zusammen.
Über vier Milliarden US-Dollar Hilfsgelder zahlte Venezuela dem karibischen Verbündeten seit 2009. Dutzende Projekte - ein neues Parlamentsgebäude, ein neuer Markt in Fontamara, ein Hospital und Schulen wurden zwar bezahlt, aber nicht oder nur halb gebaut. Der Skandal erstreckt sich über mindestens vier Präsidenten und deren jeweilige Regierungen. Inzwischen hat auf Druck der Bevölkerung auch der Rechnungshof herausgefunden: Das Geld ist verschwunden. In den Taschen von Politikern und Unternehmern aus dem In- und Ausland, insbesondere Bau- und Importfirmen aus der benachbarten Dominikanischen Republik. Aber auch die Firmen Agritrans und Comphener des amtierenden Präsidenten Moise tauchen in dem Bericht auf, unter anderem im Zusammenhang mit der Installation überteuerter Solarlaternen.
Elite bereichert sich
Moise, im Volksmund bekannt als "Bananenkönig", ist politischer Ziehsohn des Expräsidenten Michel Martelly, der als Protege der USA von 2011 bis 2016 das Land regierte und über den Löwenanteil der Hilfsgelder für den Wiederaufbau nach dem Beben von 2010 wachte. Von Beruf ist Martelly Sänger, und in einem seiner populären älteren Songs namens "Bandi legal" schildert er Haiti als klassischen Beutestaat, den eine Elite straffrei ausblutet, weil sie alle Institutionen kooptiert hat.
Die Grenzen zwischen Legalität und Verbrechen, zwischen Gewalt und Politik, verwischten dabei immer mehr. Haiti importiert nahezu alles - von Zement und Möbeln bis zu Grundnahrungsmitteln wie Eier und Reis. Viele Importfirmen werden von Politikern kontrolliert oder geschützt, das meiste wird am Zoll vorbei geschmuggelt, hat Mark Schneider vom Zentrum für Strategische und Internationale Studien (CSIS) herausgefunden. "Das erodiert nicht nur die Staatsfinanzen, sondern auch die staatliche Autorität und Kontrolle", sagt Schneider der DW.
Es ist ein Minenfeld der mafiösen Politnetzwerke, in das sich Rechtsanwalt Michel vorgewagt hat. Doch er ist nicht alleine: weil Studenten, Künstler und Musiker auf sozialen Netzwerken eine Kampagne namens #Petrocaribechallenge starteten, verbreitete sich die Information wie ein Lauffeuer. Es war der Funke, der ein Dynamitfass entzündete: "Das System war ohnehin schon in der Krise durch das starke Bevölkerungswachstum und fehlende wirtschaftliche Modernisierung. Der Unmut war groß über Inflation, Arbeitslosigkeit und steigende Armut", sagt ehemalige Innenminister Paul Gustave Magloire der DW.
Grassierende Korruption
Zwei Drittel der Haitianer leben unterhalb der Armutsgrenze, während die Oberschicht im Privatflugzeug zum einkaufen nach Miami fliegt. "Korruption und Straffreiheit haben die sozialen Gräben immer mehr vertieft. Damit muss jetzt Schluss sein", fordert Velina Charlier. Die 39-jährige hat in Kanada Marketing studiert, leitet seither einen Betrieb, der Kochgas vertreibt und steht an der Spitze der Organisation "Nou pap domi" ("Wir schlafen nicht"), eine treibende Kraft hinter den Bürgerprotesten.
Moise bietet immer wieder Verhandlungen oder eine Regierung der nationalen Einheit an, doch die Opposition glaubt ihm längst nicht mehr. "Wir fordern seinen Rücktritt, einen Antikorruptionsprozess und einen radikalen Wandel des Systems", erklärt Charlier - ein Forderungskatalog, auf den sich die stark zersplitterte Opposition geeinigt hat. Die US-Regierung hält aber weiterhin an dem diskreditierten Moise fest. Zum einen, meint Schneider, weil sie die Brisanz der Lage unterschätzt, zum anderen, weil Moise sich diplomatisch brav hinter die US-Interessen stellt - wohl aber auch, weil völlig unklar ist, wie es weitergehen könnte.
Übergangsregierung gefordert
Im Januar läuft das Mandat von einem Drittel der Kongressmitglieder aus, damit gäbe es kein funktionierendes Parlament mehr und Moise könnte theoretisch per Dekret regieren. "Das wird die Bevölkerung nicht akzeptieren", warnt Charlier, die dann eine Verschärfung der Krise prognostiziert und eine kollektive Übergangsregierung vorschlägt. Immer mehr Parlamentarier der Partei Tet Kale, die schon Martelly als Plattform diente, wenden sich von ihm ab und versuchen, ihren Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen.
Die internationale Gemeinschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten mit vermeintlichen Patentlösungen und humanitären Interventionen rasch zur Stelle war, ist verstummt. Haitis Scheitern ist auch ein Scheitern der internationalen Gemeinschaft. Das Wort von der "Haitian Fatigue", dem haitianischen Überdruss, macht in diplomatischen Kreisen die Runde. Für Charlier umso besser: "Die UNO hat uns mehr geschadet als genützt. Wir Haitianer müssen unsere Probleme selber lösen."